Zum Tod von Michel Serres

"Ein Lotse auf den Ozeanen der Wissensvielfalt"

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Der französische Philosoph Michel Serres.
Der franzöische Philosoph Michel Serres war sehr produktiv: 50 Bücher verzeichnet seine Werksliste. © imago images / Belga
Wolfram Eilenberger im Gespräch mit Joachim Scholl · 03.06.2019
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Der französische Philosoph Michel Serres ist im Alter von 88 Jahren gestorben. Serres war ein Denker, der verschiedene Wissensbereiche zu einem "Gebäude des Wissens" zusammengefügt habe, sagt der Autor Wolfram Eilenberger.
Joachim Scholl: Am Wochenende traf die Nachricht ein: Im Alter von 88 Jahren ist Michel Serres gestorben, der französische Philosoph – wir wollen seine Leistungen umreißen und würdigen mit Wolfram Eilenberger, dem Philosophen und Autor zahlreicher preisgekrönter Bücher zur Geschichte der Philosophie. Was war denn Michel Serres für ein Denker, was hat seine Philosophie bestimmt?
Wolfram Eilenberger: Er war ein ganz einzigartiges Exemplar allein schon deshalb in Frankreich, weil er ein optimistischer, technikaffiner Linker war, der glaubte, dass der technologische und wissenschaftliche Fortschritt das Leben tatsächlich besser macht, und damit war er an sich schon in einer einzigartigen Position.
Und er war auch einer der wenigen Denker, die verschiedene Wissensbereiche – von der Mathematik bis zur Systemtheorie, bis zur Philologie – zusammengefügt und ein großes synthetisches Gebäude des Wissens geschaffen hat, wie es eigentlich kein anderer Denker des 20. Jahrhunderts vermochte.
Scholl: Er hat ja eine militärische Ausbildung gehabt, er kommt sozusagen aus einer ganz anderen geistigen Ecke.
Eilenberger: Ja, das stimmt, und das hat man, glaube ich, ihm auch immer angemerkt. Er war zuerst ein Seemann und war bei der Marine, und dieses Welthaltige, Realitätsnahe, Wache für die Dinge, die Philosophen oft übersehen, das war ein Merkmal seines Denkens. Und insgesamt die Fähigkeit, sich in breiten, großen Räumen wie auf dem Meer zu orientieren. Das war eine ganz große Qualität.
Ich möchte sagen, er war so eine Art Lotse auf den Ozeanen der Wissensvielfalt, weil er es wirklich vermochte, die verschiedenen Bereiche in ganz neuer Weise zusammenzubringen und auch ins Gespräch miteinander zu bringen, denn die Stummheit der Philosophie für die anderen Wissensdisziplinen, war etwas, was er sehr bedauert hat.

"Der gute Onkel von Frankreich"

Scholl: Er war ungeheuer produktiv, über 50 Bücher verzeichnet seine Werkliste. Was waren die prägenden, bestimmenden Themen?
Eilenberger: Es gab sicher ein großes Werk, ein fünfteiliges Werk, "Hermes", da geht es um den Gott der Griechen, der vermittelt hat zwischen der Sphäre der Götter und der Welt. Michel Serres hat gesagt, wir brauchen so eine Art Hermes, der die verschiedenen Wissenschaftsgebiete miteinander verbindet. Er hat sich in dieser Rolle des Boten und des Vermittlers gesehen. Das war in den 60er-Jahren sein erster großer Durchbruch.
Und in den letzten zehn Jahren hat er noch etwas anderes Großartiges geschaffen, er war nämlich eine mediale Gestalt, die für die Philosophie in Frankreich eine ganz wichtige Rolle einnahm. Er war auf Radiosendungen, er war im Fernsehen sehr präsent, und er war so etwas wie der gute Onkel von Frankreich, der in einer sehr düsteren und schwierigen Zeit immer versuchte, das Positive zu akzentuieren, und hat damit wirklich eine sehr wichtige Rolle gespielt.

Der Versuch, in alle Bereiche des Lebens vorzudringen

Scholl: Wolfram Eilenberger, Sie sind unser bester Philosophiehistoriker derzeit. Die Zeitgenossen von Michel Serres, das waren auch Riesen: Michel Foucault, François Lyotard, Jacques Lacan, Jacques Derrida. Wo und wie würden Sie denn Michel Serres in diesem geistigen Kräfteparallelogramm verorten, oder ist er da gar nicht drin?
Eilenberger: Also ich würde sagen, er gehört unbedingt dazu, aber er hat eine einzigartige Stellung. Er hat nicht dieses eine System geschaffen, mit dem man alles erklären kann, er war auch nie jemand, der sich politisch extrem geäußert hat und dystopisch und negativ die Welt gesehen hat.
Ich würde sagen, wenn man ihn im 20. Jahrhundert verorten will, ist er eher einer Gestalt wie Ernst Cassirer vergleichbar, die in ganz verschiedenen Wissensgebieten von einer symbiotischen, von einer zeichentheoretischen Basis aus versucht hat, einen eigenständigen Weltzugang zu etablieren.
Und da, würde ich denken, ist Michel Serres einzig, solitär. Wenn es eine Gestalt gibt, mit der man ihn in Frankreich vielleicht vergleichen kann, aber dann als Gegenspieler, ist es Alain Badiou, denn auch Serres kommt aus der Mathematik und versuchte, in alle Bereiche des Lebens, auch bis in die Liebe vorzudringen, aber mit einer sehr hellen und eben mit keiner dunklen Note.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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