Zum Kinostart von "Beale Street"

"Das ist ein Riesenemotionskino"

08:55 Minuten
Regisseur Barry Jenkins
Regisseur Barry Jenkins © Deutschlandradio - Susanne Burg
Patrick Wellinski im Gespräch mit Susanne Burg · 02.03.2019
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Niemand gehe der Gefühlslage der amerikanischen Nation derzeit so intelligent auf den Grund wie Regisseur Barry Jenkins, sagt Filmkritiker Patrick Wellinski. Dessen neuer Film "Beale Street" über eine junge Liebe in Zeiten des Rassismus sei Weltniveau.
Susanne Burg: "And the Oscar goes to - Regina King!" So klang es in der Nacht auf Montag in L.A. bei den Oscars in der Kategorie Beste Nebendarstellerin. Regina King bekam den Preis für ihre Rolle in "Beale Street", und sie dankte in ihrer Rede einem der "größten Schriftsteller unserer Zeit", James Baldwin.
Regina King: James Baldwin birthed this baby and, Barry, you nurtured her.
Burg: James Baldwin hat das Kind auf die Welt gebracht – und Barry Jenkins hat es gehegt und gepflegt und aufgezogen, so Regina King. Was das für ein Verhältnis ist, das die beiden da pflegen – James Baldwin, dessen Roman "If Beale Street Could Talk", 1973 erschienen und Barry Jenkins, der den Roman in Bilder kleidet –, das wollen wir jetzt besprechen, denn "Beale Street" kommt nun bei uns ins Kino in der nächsten Woche. Patrick Wellinski ist im Studio.
Oscar-Preisträgerin Regina King erscheint bei der Vanity Fair Oscar Party am 24. Februar 2019 in Beverly Hills.
Oscar-Preisträgerin Regina King erscheint bei der Vanity Fair Oscar Party am 24. Februar 2019 in Beverly Hills.© picture alliance/AP/Invision
Patrick, lass uns erst mal noch kurz zurückblicken auf die Oscars. Vor zwei Jahren war Barry Jenkins der große Gewinner bei den Oscars, dieser Newcomer, der mit seinem Film "Moonlight" über die Geschichte eines jungen, schwulen, schwarzen Mannes in Miami den Oscar als bester Film gewonnen hat, sich in der Kategorie gegen "La La Land" durchgesetzt hat. Bei dieser Oscar-Verleihung war er überraschend wenig präsent, wenn man mal von dem hochverdienten Preis für Regina King absieht. Wie kommt das?
Patrick Wellinski: Ich glaube, dass bei "Moonlight" noch so ein bisschen etwas mitschwang von Newcomer, der alle total überwältigt hat, und seit seiner Weltpremiere in Toronto hat er das damals mit "Moonlight" geschafft, sich, den Film und auch sein Anliegen so präsent zu halten, dass das irgendwann mal größer geworden ist als nur eine Filmpromotion, und nur so konnte man "La La Land" am Ende besiegen.
Ich glaube, das gelang jetzt nicht mit diesem neuen Film. Das kann man jetzt auf die Produzenten schieben und so weiter. Aber es ist ja nicht so, dass das alle toll finden, dass er keine Rolle gespielt hat bei den Oscars. Es gibt ganz große Beschwerden, dass gerade dieser Film nicht nominiert worden ist in mehreren Kategorien. Man kann ja auch immer zehn Filme in der Kategorie für den besten Film nominieren. Da wären also noch zwei Plätze frei gewesen. Es gab nicht genug Stimmen. Das ist sehr schade, und dennoch müssen wir über diesen Film reden, weil er doch zu den aufregendsten Kino-Neustarts dieses Jahres gehört.
Burg: Lass uns das jetzt tun. Barry Jenkins ist ein großer James-Baldwin-Anhänger, so viel ist klar, also jenes Autors, der in der Bürgerrechtsbewegung viel über schwarze Identität nachgedacht hat, über Rassismus, der viele Essays geschrieben hat, seit 1953 auch Romane. Und ich finde es interessant, dass sich Barry Jenkins nun ausgerechnet diesen Roman "Beale Street Blues" von 1973 ausgesucht hat. Warum?

Afroamerikanisches Leben und Leiden

Wellinski: Ja, das ist eine gute Frage, warum er sich diesen Roman ausgesucht hat. Man könnte ja meinen, er der mit "Moonlight" auch so ein bisschen das queere Kino neu entdeckt hat*), könnte sich den letzten Roman von James Baldwin aussuchen, "Giovannis Zimmer", wo es ja explizit um so eine schwule Erfahrung geht. Er nimmt sich aber einen ganz anderen Stoff, eine Art Romeo-und-Julia-Geschichte, die in den 70er-Jahren angesiedelt ist, aber in seinem Film spielt das gar nicht wirklich nur in den 70er-Jahren.
Ich glaube, dass Barry Jenkins versucht, mit diesem Film eine gewisse Art afroamerikanischen Lebens oder auch des Leidens so einzufangen, nur so wie er es erzählen kann. Ich meine, das ist die Liebesgeschichte zwischen zwei 20-Jährigen ungefähr, Tish und ihr Freund Fonny, zwei afroamerikanische Jugendliche, sie ist schwanger, er sitzt dann im Gefängnis, weil er angeblich eine Frau vergewaltigt hat. Und dann versuchen beide Familien, irgendwie nicht nur Geld aufzutreiben, den Anwalt zu bezahlen, irgendwie diesen Sohn da rauszubekommen, damit er bei der Geburt des Kindes wieder auf freiem Fuß steht. Der Film macht relativ deutlich, wie unmöglich das ist, weil das Unterdrückungssystem der Weißen so stark ist, sich in den Justizapparat und in den Polizeiapparat durchgedrungen hat.
Das Spannende an dem Film ist, genauso wie am Buch von Baldwin, dass wir nur die Effekte dieser Unterdrückung sehen. Also wir sind ja nie im Gerichtssaal, wir sind ja nicht wirklich in diesen Hinterzimmern, wo dann die Richter sagen, ja, die Schwarzen gehören verknackt. Es ist immer nur da, weil wir merken, die Familie hat kein Geld, und dieses Geld kriegen sie nicht, eben weil sie so kleingehalten werden. Permanent werden ihnen Steine in den Weg gelegt.
Szene aus dem Kinofilm "If Beale Street Could Talk" von Barry Jenkins, Darsteller sind KiKi Layne und Stephan James
Szene aus dem Kinofilm "If Beale Street Could Talk" von Barry Jenkins, Darsteller sind KiKi Layne und Stephan James© imago/Prod.DB
Und das schildert dieser Film mit so einer unfassbaren Emotionalität und so einer Wucht, weil diese Liebe dieser beiden, das hält das ja noch irgendwie raus. Man hat so das Gefühl, diese Liebe, die wird ihnen den Weg in die Freiheit öffnen, aber Pustekuchen, weil das doch eine sehr, sehr bittere Parabel ist auf eine gewisse Alltagsrealität, die nicht nur in den 70er-Jahren aktuell war, sondern leider auch heute.

Die Flucht in die Liebe gelingt einfach nicht

Burg: Das war ja auch schon was, was Baldwin 1973 proklamiert hat, Liebe als Akt des Widerstandes. Das ist auch ja bei Barry Jenkins im Prinzip so, aber was ist das für ein Verhältnis, das Regina King da angesprochen hat zwischen Baldwin, der das Kind in die Welt gebracht hat und Barry Jenkins, der es in dem Film genährt hat?
Wellinski: Es gibt diesen schönen Satz in dem Roman, ich glaube, damit fängt er auch an: Jede schwarze Person, die in Amerika geboren wird, ist auf dieser Beale Street geboren, weil jeder dieses Schicksal irgendwie nachvollziehen kann, irgendwie mitfühlen kann. Und ich habe das Gefühl, dass Barry Jenkins hier nicht diesen Roman, der auch zum Teil viel härter mit der Realität ist und viel anklagender ist, - Barry Jenkins kleidet das noch in sehr interessante Bilder, die durchlässig werden, weil – was wir auch sagen müssen – der Film spielt auch sehr viel mit Erinnerung.
Es ist die Perspektive von Tish, die sich erinnert. In dem Moment gibt es mehrere Zeitebenen. Es gibt eine Gegenwartsebene und eine Vergangenheitsebene, aber Barry Jenkins erzählt das so klug, dass du irgendwann nicht mehr auseinanderdriften kannst, wo bist du eigentlich – ist das jetzt Vergangenheit oder Zukunft. Was macht er dann – dann schneidet er noch aktuelle Bilder rein aus den Straßenkämpfen der Black-Power-Bewegung der 60er-Jahre bis heute.
Das heißt, er gibt uns auch noch so eine alternative Weltsicht und sagt, auch diese Flucht in die Liebe, von der du gerade sprachst und von der auch Baldwin schreibt, es gelingt einfach nicht, weil es sowohl den Figuren nicht gelingt, damit zu fliehen, aber auch die Realität ist keine Ausflucht. Also ich glaube, es ist schon ein sehr produktives Verhältnis, was die beiden da haben, aber das ist keine Literaturverfilmung. Barry Jenkins füllt die Leerstellen zwischen den Zeilen bei Baldwin mit seiner großen bilderhaften Aktualität, die mich sehr beeindruckt hat.

Seine Vorbilder sind Claire Denis und Wong Kar-Wai

Burg: Aktualität ist vielleicht auch ein Stichwort. Jenkins sieht sich schon in einem aktuellen Diskurs. Er sagt, hat in einem Interview in einem französischen Sender gesagt, wenn man die Geschichte nicht selbst schreibt, dann tun das andere. Er sagt, es sind Regisseure und Regisseurinnen wie er selbst, Ryan Coogler, Ava DuVernay und Spike Lee, die seit langer Zeit Filme machen, und diese Geschichten müssen jetzt wenigstens zur Geschichtsschreibung hinzugefügt werden. Das ist schon ein sehr politischer Gedanke. Wie vermittelt sich das im Film?
Wellinski: Dadurch dass der Film erst mal überhaupt entstanden ist. Und ich glaube, er findet einen sehr intelligenten Schachzug, denn den französischen Kollegen hat er auch noch was anderes gesagt, nämlich woher kommen seine Einflüsse, um Kino zu machen.
Also er sagt, seine großen Vorbilder sind Claire Denis, die französische Regisseurin, und Wong Kar-Wai, der Hong-Kong-Chinese, und das resultiert dann nicht in einem Film von Spike Lee, wo die Leute dir quasi entgegenschreien, was du zu meinen hast, sondern in Gesichter. In "Beale Street" gibt es ganz viele Close-ups von Gesichtern. Also sie guckt ihn an durch die Scheibe im Gefängnis, und die Kamera zeigt das quasi von vorne. Dann fängt Barry Jenkins an zu blenden, sodass es aussieht, als würden die beiden uns ansehen. Plötzlich bin ich schuld daran, und ich verstehe nicht, warum die mich angucken.
Also durch so eine Blickchoreografie, die ich so im amerikanischen Kino noch nie gesehen habe, wird dieser Film quasi an uns weitergegeben. Die Geschichte von Tish und Fonny ist eine ewige Geschichte. Die beiden sind so archaisch, und trotzdem ist sie sehr von hier. Ich habe das Gefühl, dass Barry Jenkins uns alle mit ins Boot holt und diesen Diskurs mit uns mitverhandelt anhand dieser Geschichte. Hochintelligent, aber auch irgendwie unterhaltsam, weil man guckt diesen Film gut weg. Ich glaube, wenn man uns so zuhört, hat man das Gefühl, das ist so anstrengendes Thesenkino, aber das ist ein Riesenemotionskino, ja fast ein melodramatisches Kino.

"Eine Art Rainer Werner Fassbinder des amerikanischen Kinos"

Burg: Claire Denis und Wong Kar-Wai als Referenzgrößen – was erwartest du eigentlich von Barry Jenkins in der Zukunft?
Wellinski: Man kann nur, glaube ich, ganz große Vergleiche anstreben. Ich finde, er gehört schon so langsam auf den Weg in den Olymp zu den großen Gegenwartsautorenfilmern, nicht mal Amerikas, sondern weltweit. Für mich nimmt er langsam so eine Stellung ein, wie es Rainer Werner Fassbinder im deutschen Kino mal hatte, also jemand, der über eine sehr intelligente Art zu erzählen der Gefühlslage einer Nation auf den Grund geht. Ich kenne niemanden im amerikanischen Kino, der das zurzeit leisten könnte so wie es Barry Jenkins leistet auf diesem Weltniveau. Ich erwarte mir sehr, sehr Großes von ihm. Wie gesagt, so eine Art Rainer Werner Fassbinder des amerikanischen Kinos, das ist es jetzt schon und wird wahrscheinlich noch viel intensiver zutage treten, wenn er dann Film Nummer vier, fünf, sechs gedreht hat.
Burg: Ich möchte sagen, Film Nummer zwei, aber es ist in Wirklichkeit Film Nummer drei von Barry Jenkins, der kommt am Donnerstag ins Kino, heißt "Beale Street", und Patrick Wellinski war im Studio. Danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
*) Wir haben an dieser Stelle eine falsche Aussage über den Regisseur gestrichen (5.3.2019)
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