Dringend gesucht

Utopien für die analoge Welt

Massenmigration (Illustration)
Warum Zukunftspläne schmieden, wenn der Untergang sowieso kommt? Adrian Lobe hat Argumente dafür. © imago images/Ikon Images / OttoxDettmer
Ein Kommentar von Adrian Lobe · 22.03.2022
Die Gegenwart ist krisen- und kriegsgeschüttelt. Trotzdem lohnt es sich, auf die Zukunft zu hoffen, meint Politikwissenschaftler Adrian Lobe. Es brauche jedoch den Mut, mithilfe utopischen Denkens unser Gesellschaftsmodell grundlegend zu hinterfragen.
„Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie einmal war“, sagte schon Karl Valentin. Klar: Die Kassandrarufer gab es schon immer, und die Welt ist gefühlt schon einige Male untergegangen. Trotzdem leben wir heute in einer der besten Gesellschaften der Zivilisationsgeschichte. Doch für die Nachkriegsgenerationen scheint der Schrecken nicht hinter, sondern vor uns zu liegen. Man raunt bereits vom „Dritten Weltkrieg“. Das Morgen als Stoff für Träume und Utopien hat damit an Strahlkraft verloren. Warum Zukunftspläne schmieden, wenn der Untergang sowieso kommt?

Politik ist im Dauerrettungsmodus

Seit Jahren befindet sich die Politik in einem Dauerrettungsmodus: Finanzkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise, Coronakrise. Die Antwort der Politik folgt immer demselben Muster: Staatskasse öffnen, Rettungspakete schnüren, Probleme herunterkochen. Nach dem Motto: Nur niemanden verunsichern! Statt marode Systeme von Grund auf zu erneuern, werden diese notdürftig geflickt und Maßnahmen für „alternativlos“ erklärt. Wer die Systemfrage stellt und mit Weltverbesserungsideen um die Ecke kommt, gerät schnell unter Ideologieverdacht. Wie sagte schon Altkanzler Helmut Schmidt: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“

Grundlegende Reformen werden nicht angepackt

Dieser Arzt würde bei unseren Politikern eine gravierende Kurzsichtigkeit diagnostizieren. Vor genau 50 Jahren nämlich warnte der Club of Rome in seinem Bericht „Die Grenzen des Wachstums“, dass Ressourcen endlich sind und wir über unsere Verhältnisse wirtschaften.
Allein, die Mahnungen wurden in den Wind geschlagen. Die Party ging immer weiter. Ob mit dem Kraftstoff, mit dem man mit seinem SUV zum Biohof fährt, ein Krieg finanziert wird? Egal. Hauptsache, die freie Fahrt ist garantiert. Dabei wäre es gerade jetzt wichtig, sich über ein neues Gesellschaftsmodell Gedanken zu machen. Wie schaffen wir eine friedliche Ordnung ohne Wachstum? Wie könnte eine klimaneutrale, postkapitalistische Gesellschaft aussehen? Könnten Roboter unseren Wohlstand erwirtschaften?

Gesellschaftsmodell muss neu gestaltet werden

Wir brauchen keine als PR getarnten Marsvisionen eines Elon Musk, die bloß ein Fluchtplan für Superreiche sind. Und auch keine digitalen Parallelwelten wie das Metaversum. Wir brauchen Utopien für die analoge Welt. Ein Möglichkeitsdenken, das über den Horizont einer Legislaturperiode oder Konjunkturprognose hinauskommt.
Es geht hier nicht um Sozialromantik oder Tagträumerei, sondern um Autonomie – und die Abwendung eines fatalistischen, defätistischen Zeitgeistes, der uns weismachen will, dass das Heil in der Vergangenheit liegt. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hat kürzlich gesagt, man müsse „das Frankreich für unsere Kinder bauen“ – und nicht „das Frankreich unserer Kindheit wiederkäuen“. Recht hat er.

Die Zukunft ist nicht in Stein gemeißelt

Natürlich lässt sich ein politisches System nicht wie ein Betriebssystem verändern. Man kann nicht von heute auf morgen das Rentensystem umkrempeln. Jede große Idee, die in die Politikmaschine eingespeist wird, kommt am Ende klein heraus. Doch utopisches Denken zwingt uns, die Prämissen unseres Gesellschaftsmodells zu hinterfragen: Warum gehen wir arbeiten? Warum müssen wir immer mehr erwirtschaften? Worin besteht der Wert eines Panzers? Wer utopisch denkt, sieht nicht nur die Unzulänglichkeiten eines Systems, sondern auch den Handlungsspielraum, den eine Gesellschaft hat. Die Zukunft ist nicht in Stein gemeißelt. Aber man braucht Mut, sie zu gestalten.  

Adrian Lobe, Jahrgang 1988, hat in Tübingen, Heidelberg und Paris Politik- und Rechtswissenschaften studiert. Er arbeitet als freier Journalist, u. a. für „Die Zeit“, „FAZ“, „NZZ“, „Süddeutsche Zeitung“. Er ist Träger des Georg von Holtzbrinck Preises für Wissenschaftsjournalismus. 2019 erschien sein Buch „Speichern und Strafen – Die Gesellschaft im Datengefängnis“.

Adrian Lobe
© privat
Mehr zum Thema