Yasmina Reza: "Anne-Marie die Schönheit"

Bittere Poesie des Alterns

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Das Cover zeigt das gemalte Porträt einer Frau.
Yasmina Reza ist eine Meisterin präziser Sätze, in denen sie die Tragik der menschlichen Existenz in schillernder Plastizität sichtbar macht. © Hanser Verlag / Deutschlandradio
Von Dirk Fuhrig · 29.10.2019
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In Yasmina Rezas neuem Buch "Anne-Marie die Schönheit" schwankt die alternde Schauspielerin Anne-Marie zwischen Illusion und Depression. Ein brillant geschriebener Klagegesang über das Älterwerden, findet unser Rezensent.
Yasmina Reza hat in ihren weltweit erfolgreichen Romanen und Theaterstücken das gesamte Spektrum menschlicher Ängste, enttäuschter Hoffnungen und Verzweiflungen beschrieben - etwa in "Gott des Gemetzels" oder in "Babylon". In ihrer Komödie "Kunst" - eines der meistgespielten Bühnenstücke der letzten Jahrzehnte überhaupt - hat sie dem Hype um Malerei auf den Punkt gebracht.
Reza ist eine Meisterin präziser Sätze, in denen sie die Tragik der menschlichen Existenz in schillernder Plastizität sichtbar macht. Ihr jüngster Text "Anne-Marie die Schönheit" ist nur knapp 80 Seiten lang. In dem Monolog einer alternden Schauspielerin liegt jedoch eine ganze Welt aus Verbitterung, ungelebtem Leben, zerstobenen Träumen.

Schneidend ironisch

Anne-Marie stammt aus der französischen Provinz. Sie will unbedingt zum Theater, auch wenn sie nicht gerade eine "Schönheit" ist - der Buchtitel ist schneidend ironisch. Was Anne-Marie gern wäre, ist ihre Kollegin Giselle: schön, von Männern umschwärmt, von Regisseuren mit den besten Rollen überschüttet und sogar beim Film erfolgreich. Noch dazu ist sie umgeben von einer Schar Kinder und Enkel - auch das im Gegensatz zu Anne-Marie, die ihren Sohn für missraten hält, und von ihrem Mann solche Sätze sagt: "Ich langweilte mich mit meinem Mann, aber Sie wissen ja, Langeweile gehört zur Liebe dazu."
Die alte Frau, die Knieprobleme hat und es humpelnd gerade mal zum Supermarkt schafft, lebt in ihren Erinnerungen. Die wiederum sind bruchstückhaft und punktuell, wie bei den meisten älteren Menschen. Die Demenz ist nah.

Ein innerer Monolog voller poetischer Tiefe

Anne-Marie schwankt zwischen Depression und Illusion: "Ich hatte ein glückliches Leben, wissen Sie. Ich hatte ein Filmgesicht" – natürlich weiß sie selbst am besten, dass genau das Gegenteil der Realität entspricht. Darin liegt die Abgründigkeit dieses Textes, der auch die Schattenseiten der scheinbar Erfolgreichen nicht ausspart: Denn auch die bewunderte Giselle verbringt ihre letzten Tage als einsame, von ihrer Familie genervte Diva.
Auch wer Yasmina Rezas Texte – gerade etwa das Ehedrama "Gott des Gemetzels" – mitunter für zu "well made", also zu glatt, zu perfekt, zu sehr in gutsituierten bürgerlichen Verhältnissen angesiedelt hält, kann sich diesem einfühlsamen Porträt einer Frau am Ende ihrer geistigen und körperlichen Kräfte kaum entziehen.
"Anne-Marie die Schönheit" ist ein innerer Monolog voller poetischer Tiefe. Ein brillant geschriebener - und von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel in seiner Lakonie treffsicher übersetzter - Klagegesang über das Älterwerden.

Yasmina Reza: Anne-Marie die Schönheit
Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel
Hanser, München 2019
79 Seiten, 16 Euro

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