Milieu-Szenen

Das barbarische Bürgertum

Die französische Autorin Yasmina Reza
Die französische Autorin Yasmina Reza © dpa / pa / Peer Grimm
Von Ursula März · 17.03.2014
In 21 Prosa-Miniaturen erzählt Yasmina Reza von einem Bildungsbürgertum, das äußerlich in stabilen, innerlich aber in labilen Verhältnissen lebt. Die Autorin erweist sich dabei als Menschenkennerin von unbestechlicher Schärfe.
Yasmina Reza mag es gerne heiß. Die französische Schriftstellerin ist spezialisiert auf soziale Vorgänge der Erhitzung, in denen sich Explosionen und Eskalationen vorbereiten. Von nichts anderem handeln ihre weltberühmten, von Paris bis zum Broadway umjubelten Theaterstücke wie "Kunst" oder "Der Gott des Gemetzels". Yasmina Reza ist auf ein bestimmtes gesellschaftliches Milieu spezialisiert, auf jenes urbane Bildungsbürgertum, das äußerlich in recht stabilen, innerlich in eher labilen Verhältnissen lebt.
In ihrem nun erschienenen Roman "Glücklich die Glücklichen", einem Rondo aus 21 szenischen Prosa-Miniaturen, treten Anwälte, Ärzte, Journalisten, Wissenschaftler auf, die ebenso in einem typischen Reza-Stück denkbar sind und bei denen es ebenso überhitzt zugeht. In der ersten Erzählung steht der Journalist Robert Toscano mit seiner Ehefrau Odile an einem Samstagmorgen vor der Käsetheke eines Supermarktes.
Mustergültige Demaskierung
Sie können sich nicht einigen über die Käsesorte, die in den Einkaufswagen wandern soll, sie streiten sich - laut, ungehobelt, hemmungslos, ordinär. Sie sind kurz davor, den Supermarkt in einen Boxring zu verwandeln. Eine Szene am Siedepunkt der Aggression und des Verlusts zivilisierter Sitten, eine Szene, die Yasmina Rezas literarischer Technik der Demaskierung mustergültig entspricht.
In der dritten Erzählung kommt die Ehefrau, Odile Toscano, zu Wort. Diesmal ereignen sich die Tumulte um Mitternacht im Eheschlafzimmer. Sie will im Bett noch lesen, er will schlafen, der Streit um die Nachttischlampe mündet in Handgreiflichkeiten. In einer anderen Erzählung wetteifern zwei todgeweihte Krebspatienten im Wartezimmer des Onkologen um die Exklusivität ihrer Krankengeschichte und das Maß an Zuwendung, das sie von Seiten des Arztes genießen. Dieser wiederum ist der Ich-Erzähler einer späteren Geschichte, in der er über seine Neigung zu Strichjungen und sadistischen Sexpraktiken Auskunft gibt.
Ein Junge, der sich für Celine Dion hält
Das gesamte Figurenensemble der 21 Prosastücke ist in einer raffinierten Konstruktion miteinander vernetzt. Jedes Stück ist mit dem Namen der jeweiligen Hauptfigur betitelt, die in anderen Erzählstücken wiederum eine Nebenrolle spielt oder am Rand erwähnt wird. Das Ehepaar Toscano beispielsweise bewitzelt, nachdem der Nachttischlampenstreit endlich beigelegt ist, den Liebeskult des befreundeten Ehepaares Hutner, und Pasacaline Hutner berichtet an einer anderen Stelle des Buches von der Mühe, die Tragödie ihrer Familie vor dem Freundeskreis geheim zu halten: Ihr Sohn hält sich für die kanadische Sängerin Celine Dion und ist Insasse einer psychiatrischen Anstalt.
Yasmina Reza erweist sich in diesem Rondoroman einmal mehr als Menschenkennerin von unbestechlicher Schärfe. Aber diese Schärfe leidet an einer Neigung zum Sarkasmus, ja zum Spott. Reza kennt das Milieu, das sie demaskiert und dem sie selbst entstammt, zu gut, zu intim, um ihm mit echter Neugier oder mit Ambivalenz zu begegnen. Die Erkenntnis, dass das Bürgertum in seinen Tiefen barbarischer ist, als es glauben will, ist letzten Endes schmal. So bleibt der Erkenntniswert des Buches hinter seiner stilistischen Brillanz und seiner kompositorischen Artistik zurück.

Yasmina Reza: "Glücklich die Glücklichen"
Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel und Frank Heibert
Hanser Verlag 2014
176 Seiten, 13,99 Euro

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