Wolfgang Thierse verteidigt Armenspeisung

"Auch ganz konkret Bedürftigen helfen"

Wolfgang Thierse im Gespräch mit Christopher Ricke · 03.01.2015
Seit zehn Jahren versorgt die Spendenaktion "Laib und Seele" Bedürftige mit Lebensmitteln. Ex-Bundestagspräsident Thierse verteidigt das ehrenamtliche Engagement gegen Kritik, die Helfer entließen den Staat aus der Pflicht.
Zum zehnjährigen Bestehen der Lebensmittelspendenaktion "Laib und Seele" verteidigt Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) ehrenamtliches Engagement für Bedürftige.
"Ich finde es wichtig (...), auch jenseits der Systemfrage ganz konkret wirklich Bedürftigen zu helfen und nicht immer nur sich davor andersherum zu drücken und zu sagen, das System, die Politik, der Staat sind zuständig", sagte Thierse am Samstag im Deutschlandradio Kultur. Kritik, die mildtätigen Ausgabestellen nähmen den Staat bei der Versorgung der Armen aus der Pflicht, wies Thierse zurück: "Sie ist ja durchaus eine Übertreibung. Sie ist nicht ganz falsch, sie ist eine Übertreibung. Der Staat lehnt sich nicht zurück, wenn man daran denkt, dass der Sozialstaat in Deutschland ja doch Milliarden ausgibt, um auf unterschiedliche Weise Solidarität gesetzlich zu organisieren".
Persönliches Engagement sei genauso wichtig, wie immer wieder das System zu befragen, ob und wie es Menschen helfe: "Was muss besser organisiert werden, damit nicht Abhängigkeit, Hilfsbedürftigkeit entsteht einerseits - und andererseits die konkrete Hilfe für Menschen", so der SPD-Politiker, der heute anlässlich des Jubiläums die ehrenamtlichen Helfer der Ausgabestelle in der Marienkirche am Berliner Alexanderplatz unterstützt.
Menschen, die sich für andere einsetzen, sind wichtig für eine Gesellschaft
Die Menschenfreundlichkeit einer Gesellschaft hänge nicht nur vom Staat ab, sondern auch davon ab, ob Menschen solidarisch seien: "Und dass es so viele Menschen gibt, die bereit sind, anderen zu helfen, das ist eine gute Nachricht", würdigte Thierse das Engagement der über 1000 ehrenamtlichen Helfer der Berliner Initiative, die über mittlerweile 45 Ausgabestellen in Kirchengemeinden Bedürftige mit gespendeten Lebensmitteln versorgen.
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Das Interview im Wortlaut:
Christopher Ricke: Wer kein Geld hat, muss nicht hungern, er kann dennoch satt werden – das ist die Idee, die zu Suppenküchen und Tafeln geführt hat, also zu Orten, an denen Menschen, die Hilfe brauchen, auch Hilfe bekommen. Eine dieser zahlreichen Organisationen wird heute zehn Jahre alt, das ist die Initiative Laib und Seele, die in Berlin Lebensmittelspenden für bedürftige Familien sammelt. Getragen wird die unter anderem von den Kirchen, und die Zahlen, die da vorgelegt werden, die sind schon beeindruckend: Also 45 Kirchengemeinden beteiligen sich, über 1.000 Ehrenamtliche gibt es und 48.000 Bedürftige werden versorgt. Zu den Verteilern gehört auch der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse. Guten Morgen, Herr Thierse!
Wolfgang Thierse: Guten Morgen!
Ricke: Zehn Jahre ist ja eine lange Geschichte, kann man als Erfolgsgeschichte werten, aber auch kritisch gucken, weil es ja offenbar immer noch nötig ist und nicht besser wird. Ist das heute ein Tag zum Feiern?
Thierse: Ja, es ist durchaus ein Tag zum Feiern, weil wir ja dran erinnern, indem wir diesen Tag begehen, dass Menschen bereit sind, anderen Menschen zu helfen. Und was immer man sagt: Das Klima, die Menschenfreundlichkeit einer Gesellschaft hängt ja nicht nur von Staat und Politik ab und von gesetzlichen Regelungen, sondern auch davon, wie Menschen sich verhalten, ob sie menschenfreundlich sind, solidarisch sind, anderen zu helfen bereit sind. Und dass es das gibt, dass es so viele Menschen gibt, die bereit sind, anderen zu helfen, das ist eine gute Nachricht.
Ricke: Es sind ja viele, die sich da engagieren. Auch in meiner Pfarrgemeinde gibt es eine immer gut besuchte Suppenküche. Es gibt aber auch die Kritik, die wir vorhin schon mal gehört haben hier an anderer Stelle, man würde sich inzwischen zu sehr auf die Hilfsorganisationen verlassen. Die Armut werde nicht mehr bekämpft, sondern verfestigt, und der Staat könne sich ja zurücklehnen – erledigen ja die Suppenküchen, die Tafeln, Laib und Seele. Kann man diese Kritik einfach so zurückweisen?
Thierse: Sie ist ja durchaus eine Übertreibung. Sie ist nicht ganz falsch, das ist eine Übertreibung. Der Staat lehnt sich nicht zurück, wenn man daran denkt, dass der Sozialstaat in Deutschland ja doch Milliarden ausgibt, um auf unterschiedliche Weise Solidarität gesetzlich zu organisieren, staatlich zu verbürgen, und trotzdem wissen wir, dass es nicht ausreicht, weil Armut, Hilfsbedürftigkeit auf höchst unterschiedliche Weise entsteht und konkret bekämpft werden muss. Also ich finde es mindestens genauso wichtig wie das System immer wieder neu zu befragen, ob man und wie es Menschen hilft, auch jenseits der Systemfrage ganz konkret wirklich Bedürftigen zu helfen, und nicht immer nur sich davor – anders herum – zu drücken und zu sagen: Das System, die Politik, das Gesetz, der Staat sind zuständig. Nein: Menschen helfen Menschen, das ist der entscheidende Umstand.
"Immer neu prüfen, wie funktioniert Sozialstaat"
Ricke: Manche sagen aber auch, ich gehe jetzt mal in eine politisch andere Richtung der Argumentation – muss man sich nicht anschließen, aber es gibt sie: Es gibt doch genug Geld im Sozialsystem. Die, die sich da anstellen, die wollen nur das Geld, das ihnen schon zugeteilt wird, einsparen, um sich ein neues Handy oder eine Schachtel Zigaretten zu kaufen.
Wolfgang Thierse
Ex-Bundestagspräsident und ehemaliger Bundestagsabgeordneter Wolfgang Thierse (SPD)© Imago/Future Image/Gabsch
Thierse: Das mag sein, aber wollen wir etwa kritisieren, dass Menschen sich ein neues Handy kaufen wollen oder, wenn sie denn rauchen, auch was zum Rauchen haben? Wer so richtet gegenüber Menschen und gewissermaßen sich beckmesserisch verhält, der will sich eigentlich vor Solidaritätsbereitschaft drücken, der will sich verweigern. Also es ist immer beides notwendig: Wir haben immer neu zu prüfen, wie funktioniert unser Sozialstaat, was muss besser organisiert werden, damit nicht Abhängigkeiten, Hilfsbedürftigkeit entsteht, einerseits, und andererseits die konkrete Hilfe für Menschen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen der Hilfe bedürfen.
Ricke: Jetzt geht es ja heute bei Laib und Seele, bei diesem zehnten Jahrestag, um eine Organisation, die auch von den Kirchen mitgetragen wird. Dort gibt es die Barmherzigkeit ja als Auftrag. Den gibt es ja noch länger als zehn Jahre, den gibt es ja schon seit 2.000 Jahren – kann man beim Evangelisten Matthäus nachlesen. Sind denn diese Aufträge so klar, dass die Menschen das als Pflicht aufnehmen, oder ist das was anderes, was motiviert, zu helfen?
Thierse: Also wer Christ ist, für den sollte das verständlich sein, dass er mit dem Blick auf andere lebt und nicht nur mit dem Blick auf den eigenen Bauchnabel und das eigene Leben als eine Exekution von Egoismus versteht. Nächstenliebe – und das ist ja die christliche Formulierung für das, was wir sonst Solidarität nennen – ist ein wesentliches Element des Christentums. Es gibt keinen christlichen Glauben, der nur Glauben ist, sondern der soll ja tätige Praxis sein, und die äußert sich eben im Leben für andere, im Einsatz für andere. Also ist es insofern eine Art von moralischer Pflicht, die aber ein selbstverständlicher Teil des Glaubens ist. Wie steht es im Neuen Testament? "Was wisst ihr denn schon von Gott, wenn ihr nichts vom Nächsten wisst?"
"Es gibt eine Menge Menschen, die zu helfen bereit sind"
Ricke: In der christlichen Geschichte gibt es ja auch dunkle Kapitel, zum Beispiel den Ablasshandel, und da gibt es durchaus Spötter, die sagen, na ja, man kann ja Suppenküchen auch so betrachten: Ich spende kurz vor Weihnachten, wenn gerne gespendet wird, vielleicht mal 100, 200 Euro für die Suppenküche und dann drehe ich mich wieder um und schaue weg von all diesen Bedürftigen. Muss man das auch im Blick haben?
Thierse: Ach, wissen Sie, das ist ein hämischer Kommentar, der sich moralisch über andere erhebt, die meinen, also man mache sich ein gutes Gewissen. Die anderen haben gar kein Gewissen oder die interessiert dieses nicht. Wenn sich jemand anrühren lässt durch andere und sagt, mir geht es besser, denen geht es schlechter, weil das so ist, halte ich es für einen Teil eines guten, sinnvollen Lebens, für andere was tun zu wollen – denen das vorzuwerfen, das kann ich nur für hämisch halten.
Ricke: Herr Thierse, sie werden sich heute selber an eine Ausgabestelle stellen. Das hat man mit Absicht so verabredet, weil natürlich die Öffentlichkeit, weil die Medien dann da hinschauen. Wie wichtig ist das denn, dass Prominente – ob es jetzt Politiker sind oder Schauspieler oder Künstler – sich da auch öffentlich engagieren?
Thierse: Ich weiß nicht, ob es wirklich wichtig ist, aber ich bin gefragt worden, und weil ich die Arbeit der Tafel, die Arbeit von Laib und Seele für wichtig, für notwendig, für menschenfreundlich halte, habe ich gesagt, ja, ich komme, ich will das unterstützen, damit eben die Öffentlichkeit das wahrnimmt, dass da etwas ganz Wichtiges passiert. Wir sind doch gewohnt, über unsere Gesellschaft zu klagen, über die Ellbogenmentalität, über die Kälte, über den Egoismus. Und da sage ich: Schaut hin, es gibt auch was ganz anderes, es gibt genügend Menschen, viele Menschen, ich weiß nicht, ob genügend, aber jedenfalls doch eine Menge Menschen, die für andere sich einsetzen, die zu helfen bereit sind. Und das zu wissen und das zu sehen und sich vielleicht sogar davon anstecken zu lassen, anstiften zu lassen, es gleichfalls zu tun, das ist notwendig, wichtig, richtig und unterstützenswert.
Ricke: Zehn Jahre Laib und Seele bei den Berliner Tafeln. Vielen Dank, Wolfgang Thierse!
Thierse: Auf Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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