"Soziale Arbeit im Sinne der Nächstenliebe"

Sabine Werth im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 22.04.2013
Die Gründerin der Berliner Tafel, Sabine Werth, hat die Arbeit der Tafel-Bewegung als praktisches Beispiel für Nächstenliebe gerechtfertigt. Dem neu gegründeten "Kritschen Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln" warf Werth eine "Anti-Haltung" vor.
Liane von Billerbeck: Sie gelten als eine große Errungenschaft, die verhindern, dass Menschen hierzulande Hunger leiden müssen: die Tafeln, die es in vielen Städten gibt und die erreicht haben, dass Lebensmittel, die in Supermärkten, Kaufhallen, Banketts übrig bleiben, mittellosen Menschen zugutekommen. In Berlin wurde vor 20 Jahren die erste Tafel gegründet, von Sabine Werth. Sie hat sich um die Berliner Tafel verdient gemacht und ist jetzt bei uns zu Gast, ich grüße Sie!

Sabine Werth: Hallo!

von Billerbeck: Als Sie die Berliner Tafel vor 20 Jahren ins Leben gerufen haben, wie lange, dachten Sie damals, würde man die Tafeln brauchen?

Werth: In der Richtung "Brauchen" habe ich gar nicht gedacht, sondern wir haben ja ursprünglich als kleine Frauengruppe angefangen, Obdachloseneinrichtungen zu unterstützen, und das sollte von vornherein ein Pflästerchen sein. Wir haben nie an was anderes gedacht als daran, einfach den Überfluss auf der einen Seite zu nehmen und ihn dahin zu geben, wo er gebraucht wird. Es kamen dann ganz schnell Anfragen von sozialen Einrichtungen, die darum baten, ob sie nicht vielleicht auch beliefert werden könnten, und auf die Art und Weise hat sich das System in Berlin ausgeweitet. Berlin ist erst 2005 dazu übergegangen, bedürftige Bevölkerung zu unterstützen. Bis dahin waren es nur soziale Einrichtungen. Die Entwicklung, Bevölkerung mit Lebensmitteln zu unterstützen, ergab sich in kleineren Städten, die übersichtlicher aufgebaut waren. Wir hatten in großen Städten da ganz große Schwierigkeiten.

von Billerbeck: Nun sind die Tafeln inzwischen eine Institution. Ist das gut oder schlecht?

Werth: Ich sehe darin erst mal nicht wirklich 'was Schlechtes. Wenn wir gleichzeitig alle - auch wir Taflerinnen und Tafler - immer wieder bedenken, dass wir den Finger immer wieder erheben müssen, dass wir immer wieder darauf deuten müssen, wo die gesellschaftlichen Probleme sind. Wir sind eben nicht die - Sie haben es in der Anmoderation gesagt, die Tafeln unterstützen -, nein, wir unterstützen die - ach nein, Sie haben gesagt "versorgen" -, wir versorgen die Menschen nicht, sondern wir unterstützen sie, und das ist ein ganz wesentlicher Unterschied. Für die Versorgung muss der Staat da sein und das muss über Hartz IV und alle anderen sozialstaatlichen Leistungen gewährleistet sein. Wir können immer nur das Pflästerchen kleben und mehr wollen wir gar nicht.

von Billerbeck: Nun hat der Furtwangener Soziologe Stefan Selke, der das kritische Aktionsbündnis "20 Jahre Tafeln" gegründet hat, auch in seinem Buch "Schamland" beschrieben, was die von den Tafeln Abhängigen, muss man ja fast sagen, oder Unterstützten, fühlen. Und er hat heute Morgen bei uns im Programm Folgendes dazu gesagt:

O-Ton Stefan Selke: Die Tafeln sind ein sehr gutes Beispiel dafür, dass sich etwas etabliert hat, einst als Nothilfe für Obdachlose, damals hießen sie nicht Tafeln, sondern Mahlzeitnothilfen, und mittlerweile ist das wirklich ein umfassendes Zweitversorgungssystem geworden, ein System im System. Und alle Akteure, die da drauf gucken, sei es die Politik oder auch die Wirtschaft, die die Tafeln unterstützt, und auch die Menschen, die zur Tafel gehen, können sich fast ein Land ohne Tafeln gar nicht mehr vorstellen.

von Billerbeck: Stefan Selke war das vom kritischen Aktionsbündnis "20 Jahre Tafeln" heute Morgen bei uns im Programm. Frau Werth, hat er sich für seine Kritik die falschen Gegner ausgesucht?

Werth: Das sehe ich ganz bestimmt so. Zum einen hat er offensichtlich eine falsche Geschichtsvorstellung von uns, weil wir hießen von der ersten Sekunde an Tafel, ich weiß es, weil ich den Tafel-Namen mit entwickelt habe. Und er ... Also, er sagt auf der einen Seite, er ist ja gar nicht gegen Tafeln, er ist gegen das System, was wir darstellen, gleichzeitig ist es aber das Aktionsbündnis "20 Jahre Tafel sind genug", das bedeutet, wir müssten eigentlich aufhören. Insofern ist das ein Widerspruch in sich. Ich nehme das durchaus ernst, weil ich unterstütze einige seiner Thesen, ich finde nur diese Antihaltung unheimlich falsch.

von Billerbeck: Was würde denn passieren, wenn es die Tafeln vom einen Tag auf den anderen nicht mehr geben würde?

Werth: Ich gehe davon aus, dass da ein ganzes System zusammenbrechen würde. Weil die Händlerinnen und Händler hätten nichts mehr, wo sie es hin abgeben können, das heißt, die müssten auch wieder mehr Biotonnen ordern, das würde schon mal ein Problem bedeuten. Aber wenn wir mal auf der menschlichen Seite bleiben, es würde für die Menschen, die sich darauf eingestellt haben, einmal in der Woche Kontakt mit anderen Menschen zu haben, auch was wegbrechen. Es geht meiner Meinung nach schon lange nicht mehr um die Lebensmittel, das ist ein nettes Zubrot im wahrsten Sinne des Wortes, sondern es geht den Menschen auch um die Kontakte, die sie in den Ausgabestellen bei den Tafeln haben. Denn da haben sich Freundschaften entwickelt, da haben sich Kontakte entwickelt. Ich habe es mal erlebt, nachmittags um 13 Uhr sagte eine Frau, die sich Lebensmittel holen wollte: "Sie sind heute der erste Mensch, mit dem ich rede." Und alleine dafür ist es doch toll, dass es uns gibt.

von Billerbeck: Das heißt, Sie machen eigentlich gar nicht Lebensmittelunterstützung, sondern Sie machen Sozialarbeit?

Werth: Ich bin da sehr vorsichtig. Ich habe Sozialarbeit studiert und ich möchte nicht behaupten, dass irgendjemand, der es nicht gelernt hat, einfach mal so Sozialarbeit machen kann. Sozialarbeit hat da schon einen höheren Anspruch. Wir machen aber soziale Arbeit, im Sinne der Nächstenliebe, der Mitmenschlichkeit, der Umsicht, der Verantwortung füreinander. Und ich sehe das als Bürgerin dieses Landes als eine schlichte Aufgabe eines jeden Menschen an.

von Billerbeck: Sabine Werth ist bei mir zu Gast. Seit 20 Jahren gibt es die Tafeln, sie hat 1993 die Berliner Tafel gegründet und fast genauso lange gibt es auch Kritik und Debatten darüber, die da lauten, die Tafeln würden verhindern, dass der Staat seinen Pflichten nachkäme. Sie hatten, kann ich mich erinnern, wir sind uns vor vielen Jahren schon mal begegnet, auch die Anfrage, ob Sie von der Berliner Tafel nicht die komplette Schulspeisung übernehmen würden für die Stadt Berlin, und Sie haben das abgelehnt. Warum?

Werth: Ich sehe das nun wirklich als eine Aufgabe von Caterern an und als Aufgabe des Senats und der Bezirke, dafür zu sorgen, dass anständige Caterer diese Schulversorgung übernehmen, auch dafür zu sorgen, dass es für alle Eltern erschwinglich ist, ihren Kindern eine Schulmahlzeit leisten zu können. Und wenn es nicht möglich ist, kostenlose Schulspeisung durchzuführen, was ich für das absolut Beste halten würde, dann sollte wenigstens eine stärkere Unterstützung da sein. Es kann nicht sein, dass Kinder hungrig in der Schule sitzen.

von Billerbeck: Sie haben gesagt, wir sind keine Sozialarbeiter, aber wir machen soziale Arbeit. Dazu hat Stefan Selke bei uns heute Morgen auch etwas Kritisches gesagt!

O-Ton Selke: Die Tafeln mögen sich in ihrem Selbstbild als eine soziale Bewegung verstehen, die Protest immer äußert, sozusagen politischen Protest. Ich halte das für etwas, was ich einen umarmten Protest nenne. Man könnte auch etwas lax sagen: Das ist Kuschelrockprotest, weil sie den Protest adressieren an diejenigen, von denen sie längst abhängig geworden sind. Also, die Tafeln adressieren politischen Protest an das politische System, von dem sie Schirmherrschaften umgekehrt einfordern, von dem sie mittlerweile Transferleistungen bekommen, Infrastrukturen einfordern, Geld einfordern und bekommen. Das heißt, sie sind abhängig und können in diesem Abhängigkeitsverhältnis eigentlich keinen ehrlichen Protest äußern.

von Billerbeck: Das sagt der Soziologe Stefan Selke, der das kritische Aktionsbündnis "20 Jahre Tafeln sind genug" gegründet hat. Frau Werth, was antworten Sie ihm?

Werth: Dass er sehr abhängig ist von seiner Uni in Furtwangen, die ihn finanziert und die ihn bezahlt, und da bekommt er sein Geld her und hat damit bestimmt ein ganz gutes Auskommen. Die Tafeln bekommen weder Transferleistungen noch Sonstiges. Gerade bei der Berliner Tafel halten wir es immer extrem hoch, ausschließlich von Spenden und Mitgliedsbeiträgen unsere Arbeit zu finanzieren, und das werde ich auch nicht aufgeben. Und ich werde ganz bestimmt keine Transferleistung vom Staat beantragen.

von Billerbeck: Vielleicht meint er einfach, dass Menschen zum Beispiel Autos der Tafel fahren, die aber selber Hartz IV bekommen und andere unterstützen, denen es noch schlechter geht?

Werth: Dann ist es so. Da bekommt aber die Tafel dann auch keine Transferleistung. Wir haben viele Ehrenamtliche, die zu den Info-Gesprächen gekommen sind und als Begründung, warum sie bei uns mitmachen wollen, angeben: "Mein Tag braucht endlich wieder Struktur, ich bin seit Jahren arbeitslos, ich will wissen, warum ich morgens um sieben aufstehe." Und ich finde, das ist ein guter Ansatz und das heißt nicht, dass wir Tafeln auf die Art und Weise Transferleistungen missbrauchen, sondern dass wir Menschen auch wieder eine Chance geben, sich menschenwürdig fühlen zu dürfen. Weil das ist, glaube ich, bei ganz vielen auf der Strecke geblieben.

Und das ist letztlich auch das, was Selke immer wieder in den Gesprächen mit den Gästen der Tafeln gehört hat, die fühlen sich nicht gut dabei. Deshalb, "Schamland" ist kein schlechter Name, das sind alles Menschen, die sich überwunden haben, zu einer Tafel zu gehen, um dort Lebensmittel abzuholen. Das ist nicht schön, von den Nachbarn beobachtet zu werden dabei, das ist uns Taflern klar, das kann aber auch allen Kritikerinnen und Kritikern klar sein. Und ich finde, da gibt es viele, viele, viele Punkte, wo wir gut zusammenarbeiten könnten, und diese Antihaltung, die nervt mich.

von Billerbeck: Nun ist es ja auch oft so, dass Politiker sich gerne schmücken mit der Suppenkelle in der Hand auch vor den Tafeln. Wie ist Ihr Gefühl bei dieser Art von Werbung für die Tafel?

Werth: Mit der Suppenkelle in der Hand ist auch schon mal falsch, da sollte er zu einer Suppenküche gehen, weil wir geben Lebensmittel aus. Das bedeutet, dass wir den Menschen die Möglichkeit geben wollen, zu Hause zu kochen, zu Hause in Familie zu essen, ganz normal ein Teil dieser Gesellschaft zu sein. Denn all jene, denen es vermeintlich besser geht, die sitzen zusammen und essen. Und das finde ich einen ganz wichtigen Punkt, wir sind eben keine Suppenküchen. Und auch das ist mir ganz wichtig, ich halte Suppenküchen für Obdachlose für eine unendlich wichtige Angelegenheit, aber für ganz normale Bevölkerung, noch dazu Familien mit Kindern, die in Suppenküchen gehen, das finde ich ganz schlimm. Und ich sehe viele Ansätze in unserer Gesellschaft, an denen wir Kritik üben könnten, ich sehe es aber nicht unbedingt an der Stelle, wo wir mal eine Schirmherrschaft von einer Politikerin oder einem Politiker haben. Das ist eine zeitlich begrenzte Sache, unser Bundesverband hat eine Dauerschirmherrschaft, das fand ich von der ersten Sekunde an nicht gut.

von Billerbeck: Hoffen Sie eigentlich, dass die Tafeln, die irgendwie auch Ihr Lebenswerk sind, sich irgendwann mal erledigt haben?

Werth: Schon alleine wegen meines Zeitmanagements wäre es ja ganz praktisch. Aber ich fürchte, dass es so schnell nicht gehen wird. Wir sind schon darauf eingestellt, dass wir nicht so ohne Weiteres aufhören können, dass wir uns auch in dieser Gesellschaft nicht so ohne Weiteres erledigen. Und deshalb gehe ich davon aus, wir machen mal weiter, auch wenn Kritik immer lauter wird. Ich finde es wichtig, sich mit Kritik auseinanderzusetzen, aber ich mag konstruktive Kritik.

von Billerbeck: Das sagt Sabine Werth, die Gründerin der Berliner Tafel im 20. Jahr der Existenz der Tafeln. Danke für das Gespräch, danke für Ihr Kommen!

Werth: Ich danke!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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