Wolf Jobst Siedler

"Leben und Denken in Ambivalenzen"

Wolf Jobst Siedler, deutscher Verleger, aufgenommen im Oktober 1996 auf der Frankfurter Buchmesse.
© dpa / Erwin Elsner
28.11.2013
Der Herausgeber des Berliner "Tagesspiegel", Hermann Rudolph, hat den verstorbenen Verleger Wolf Jobst Siedler als eine "sehr eigenwillige Figur" gewürdigt. Siedler habe zu einer Reihe von "singulären Figuren aus der "Generation der 45er" gehört, die den kulturellen und intellektuellen Aufbau der Bundesrepublik eingeleitet hätten.
Frank Meyer: Der Verleger und Publizist Wolf Jobst Siedler ist gestern gestorben, einer der wichtigsten Verleger in der Bundesrepublik. Die Bücher, die er herausgebracht hat, die haben Debatten ausgelöst. Die Hitler-Biografie von Joachim Fest oder die Tagebücher von Hitlers Rüstungsminister Albert Speer oder Daniel Goldhagens Werk "Hitlers willige Vollstrecker". Wolf Jobst Siedler hat auch selbst Bücher geschrieben, das bekannteste ist wahrscheinlich "Die gemordete Stadt" aus dem Jahr 1964. Ein sehr hellsichtiges Werk über die Zerstörung der bürgerlichen Stadt.
Wolf Jobst Siedler stand für eine geistige Haltung, die selten war in der Bundesrepublik. Sie wird als unabhängiger, liberaler Konservatismus beschrieben. Über diese Haltung reden wir mit Hermann Rudolph. Er ist Herausgeber und ehemaliger Chefredakteur des "Berliner Tagesspiegels", bei der Zeitung war Wolf Jobst Siedler lange Zeit Feuilletonchef. Seien Sie herzlich willkommen, Herr Rudolph!
Hermann Rudolph: Schönen guten Tag!
Meyer: Was haben Sie denn geschätzt an Ihrem guten Bekannten Wolf Jobst Siedler?
Rudolph: Ich habe ihn erst einmal als Schreiber bewundert. Wolf Jobst Siedler war ein Meister der kleinen Form, er hat keine großen Bücher geschrieben. Das waren aber Arbeiten von solchem Charme und von einer solchen Treffsicherheit, dass man sie eben, finde ich, bewundern musste. Das andere war er als Persönlichkeit. Er war ein sehr gut auftretender Mann mit einer großen Ausstrahlung, mit einem sozusagen kulturell-intellektuellen Fluidum, das einen auch beeindruckte. Und das Dritte war, dass er als Person wirklich sehr angenehm und kollegial, familiär war.
Und wenn man bei ihm zu Hause war, also in seinem Zehlendorfer Haus und dort die Leute versammelt sah, die eben in Berlin damals einfach interessant waren, dann hatte man sozusagen einen wirklichen Eindruck davon, was ein kultureller Knoten in einer solchen Stadt bedeuten kann. Wo einfach sehr viele Leute zusammenkommen und in einer individuellen, eigenwilligen Weise zusammengeführt werden.
Meyer: Das heißt, das Haus von Wolf Jobst Siedler, das war so ein Brennpunkt des intellektuellen Lebens in Berlin?
Rudolph: Das würde ich sagen. Das hat natürlich in den letzten Jahren abgenommen, aber es ist von den 70er-Jahren, sagen wir mal, von der Zeit, in der Weizsäcker hier regierender Bürgermeister wurde, ist es das gewesen und ein gewisser Nachglanz war da auch noch in den letzten Jahren da, bevor er dann eben krank wurde.
Meyer: Wie würden Sie denn seinen Blick auf unsere Gesellschaft beschreiben? Ich hab schon so ein paar Schlagworte, die da immer herumgeistern, eingeworfen: Liberaler, Konservativer zum Beispiel – trifft es das?
Eine sehr eigenwillige Figur
Rudolph: Ja. Es trifft alles Mögliche zu, weil er eben eine sehr eigenwillige Figur war, sodass man, glaube ich, alle solche Attribute nur mit Maßen gebrauchen kann. Er selbst ließ sich sehr gerne einen linken Tory nennen. Da waren dann noch die zwei Momente, einerseits das Linke, sozusagen für einen gewissen Wagemut des Denkens und Unkonventionalität des Denkens standen, und auf der anderen Seite der Tory, ein Mann von Figur, von Manieren, von gesellschaftlichem Standing.
Meyer: Und einer gewissen Britishness, das war für ihn auch wichtig.
Rudolph: Das war für ihn wichtig. Und natürlich, er war auch ein Mann, der durchaus über einen gewissen Hochmut verfügte. Das trug er so locker, dass man ihm das nicht nachtragen konnte, aber er hatte das. Und das hat manche Leute schon gestört; ich fand es eigentlich einen zusätzlichen Reiz.
Meyer: Ein Hochmut im Blick auf eine immer plebejischer werdende Umgebung?
Rudolph: Ja. Das war, das ist ja sozusagen sein großer Denkzug gewesen, dass er die Gesellschaft eigentlich in einem Verfallszustand oder zumindest in einem Niedergangszustand sah, nicht wahr, und das wurde dann mit der Zeit eigentlich ein bisschen schon fast leicht penetrant, dass er sagte, ja, in dieser Gesellschaft, also die Juden sind weg, nicht wahr, das Bürgerliche ist weg, die intellektuelle Anstrengung ist weg – also, was bleibt dann eigentlich übrig? Es blieb also mindestens er selbst übrig, und ich würde auch sagen, dass die Niedergangsperspektive, da war auch eine gewisse Koketterie dabei, das sprach sich auch gut, nicht wahr? Das hatte so einen Sound, der ihm lag und der einfach auch als intellektuelles Kunststück großen Charme hatte.
Bezugspunkt ist der Berliner Klassizismus
Meyer: Wenn man von Niedergang spricht, muss man ja einen Punkt haben, von dem etwas nach unten geht. Was war dieser Punkt für ihn? Er hat sich ja zum Beispiel auch für den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses eingesetzt. War das so ein Zurück ins 19. Jahrhundert, Zurück ins bürgerlich-intellektuelle Berlin? War das der Bezugspunkt?
Rudolph: Das schon. Also es ist eigentlich, der wirkliche Bezugspunkt ist der Berliner Klassizismus gewesen, nicht wahr? Das war eigentlich die Zeit, die er für Berlin prägend hielt und die er auch, glaube ich, am meisten gemocht hat. Aber insgesamt war es natürlich doch ein bisschen die Vor-1914-Gesellschaft, aber auf der anderen Seite war er natürlich auch ein sehr engagierter Mann der Revolutionen der 20er- und 30er-Jahre, und die Nachkriegszeit hat er, der eben jung war und hier aktiv war und in die Diskussion eintrat, die hat er als unsere nachgeholten 20er-Jahre bezeichnet.
Also, diese Umbruchssituation, diese intellektuelle Herausforderungssituation, die hat er auch sehr gemocht, hat er also – und das war natürlich nun gar nicht 19. Jahrhundert, das war ja ein Anti-Gegen-19 – also, er konnte beides, wie überhaupt das Leben und Denken in Ambivalenzen für ihn ganz bezeichnend ist.
Meyer: Ich hab ja vorhin schon dieses Zitat kurz genannt, den Blick rückwärts gewandt, war er seiner Zeit meist voraus. Über das Rückwärtsgewandte haben wir gerade kurz gesprochen. Dieses Seiner-Zeit-voraus-Sein, wo würden Sie das sehen bei ihm? Wo war er seiner Zeit voraus?
Rudolph: Nun, den klassischen Fall haben Sie schon in Ihrer Anmoderation genannt, das war "Die gemordete Stadt". Das war ja wirklich eine Wende, eine Kehre fast in der Architekturbetrachtung. Bis dahin waren eigentlich die moderne Architektur im ganz klassischen Sinne des frühen und späteren 20. Jahrhunderts der eigentliche Maßstab für auch uns hier in Berlin. Berlin ist ja eine Stadt der 50er-Jahre, in der ungeheuer viel gebaut und auch gesündigt worden ist eben in diesem Stil. Und da machte er im Grunde genommen auf dem Absatz kehrt und schrieb eben dieses Buch über die "gemordete Stadt", war während der ganzen Zeit eigentlich durchaus in den Gesprächen und Diskussionen über das neue Bauen engagiert.
Mies van der Rohe et cetera waren natürlich für ihn eigentlich die Götter, aber dann kam eben so in dem Überdruss der 60er-Jahre an dieser Art von Architektur, kam dann diese Wende. Und die hat doch erstaunliche Wirkungen gehabt. Da hat er wirklich viel vorweggenommen. Und wenn Sie sich erinnern an dieses letzte Jahrzehnt, als nun Berlin in seiner Mitte wieder aufgebaut wurde, der Gedanke der europäischen Stadt war genau in dieser Richtung, und Leute wie Hans Stimman oder so was haben alle als Bezugspunkt eben diese "gemordete Stadt", dieses Buch aus den 60er-Jahren.
Meyer: Hans Stimman war der Senatsbaudirektor, der dann die Entscheidung getroffen hat.
Rudolph: Der hier sozusagen das Bild dieser Stadt doch in den letzten zehn Jahren, in dieser Wiederaufbauzeit, den letzten 20 Jahren stark geprägt hat. Und eben eigentlich ein entschiedener Sozialdemokrat, ein Mann des neuen Bauens, nicht wahr, und dann aber eben doch auch von dieser Argumentationskraft und dieser Wendung, die Siedler mit diesem Buch eingeleitet hat, doch völlig überzeugt.
Ein gewaltiges Verdienst und eine große Generation
Meyer: Wir sprechen hier im Deutschlandradio Kultur über den Tod von Wolf Jobst Siedler mit Hermann Rudolph, Herausgeber des "Berliner Tagesspiegels". Würden Sie jetzt sagen, Wolf Jobst Siedler war eine ganz einzelne Figur, wo man eigentlich nichts Vergleichbares findet, oder ist das doch eine gewisse geistige Strömung in der Bundesrepublik, für die man auch andere Vertreter finden kann?
Rudolph: Teils, teils. Fragen Sie mich jetzt nicht, wen ich jetzt gerade an die Seite von Wolf Jobst Siedler stellen soll. Ich würde meinetwegen Peter Wapnewski nennen oder so, aber das sind eigentlich alles in ihrer Weise doch singuläre Figuren gewesen. Was sie gemeinsam haben, das ist, dass sie dieser Generation angehören, die 1945 sozusagen überlebt hatte – waren ja alle im Krieg – und die dann eben den intellektuellen, kulturellen Aufbau der Bundesrepublik einleiteten. Das, was man die Generation der 45er nennt, das ist sicher eben der größere Nenner, nicht, und da ist er einer von einer ganzen Reihe von Personen, und das ist in der Tat ein, finde ich, historisch gesehen ein gewaltiges Verdienst und eine große Generation gewesen.
Meyer: Und würden Sie sagen, in Zukunft wird uns das fehlen, dieser – ich nehme noch mal dieses Schlagwort – liberale Konservatismus, für den er gestanden hat? Oder wachsen Leute nach, die das in die Zukunft tragen?
Rudolph: Ja, ich denke schon, dass da alles Mögliche nachwächst, aber ich meine, in dieser Form, mit dieser außerordentlichen Prägung durch Drittes Reich, Weltkrieg und eben diese unmittelbare Nachkriegszeit, in der alles aufgebaut werden musste und in der man in einem großen Tohuwabohu war und trotzdem irgendwie mit aus dem Dreck geschoben hat, das ist eine historische Singularität. Das wird es so nicht mehr geben, Gott sei Dank, denn wir brauchen keinen Krieg und wir brauchen kein solches Tohuwabohu. Aber es ist halt doch eine Generation, glaube ich, die erinnerungswert ist. Und in seinem Fall würde ich noch dazu sagen, er ist ja nun Berliner, Ur-Berliner, nur Berliner, und hat mal davon gesprochen, dass der Aufstieg Berlins in der Nachkriegszeit und sein eigener so zusammengefallen sind. Und das, glaube ich, ist für ihn ganz wichtig gewesen. Das hat dann eben, vor zehn, zwanzig Jahren eigentlich dann, mehr oder minder ist das ausgelaufen, aber das ist sozusagen der Punkt, aus dem er zu begreifen ist.
Meyer: Der Berliner und Verleger und Publizist Wolf Jobst Siedler ist gestern im Alter von 87 Jahren gestorben. Wir haben mit Hermann Rudolph gesprochen, dem Herausgeber des "Berliner Tagesspiegels". Vielen Dank für das Gespräch, Herr Rudolph!
Rudolph: Danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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