Nachruf

Ein großer Verleger und eigenwilliger Essayist

Von Adolf Stock · 28.11.2013
Er dachte gegen alle festgefahrenen Konventionen: Mit dieser Haltung las der Verleger Wolf Jobst Siedler seiner Heimatstadt Berlin oft die Leviten. Nun ist er im Alter von 87 Jahren gestorben.
Wolf Jobst Siedler war ein Kind der Weimarer Republik, eine Welt die seinen Eltern nicht besonders behagte. Am 17. Januar 1926 wurde er als Sohn eines Diplomaten und einer Offizierstochter in Berlin-Dahlem geboren. In seinem Elternhaus ist er bis zu seinem Tod wohnen geblieben.
Wolf Jobst Siedler: "Die Architekturwelt um die Jahrhundertwende und die Anstrengung dieser letzten Epoche des wilhelminischen Berlin ging dahin, das englische Wohnmodell in Form von Reihenhäusern nach Berlin zu verpflanzen, tiefzustapeln, kleine bescheidene Eingänge und drinnen sieht es dann ganz passabel aus."
Passabel gehört zu jenen Worten, die der preußischen Genügsamkeit der Siedlers einen trockenen, selbstgewissen Ton verleihen. Auch der Name Jobst ist ein Hinweis auf das großbürgerliche Erbe der Familie, deren Stammbaum viele berühmte Namen verzeichnet, vom Bildhauer Gottfried Schadow, über den Musiker Carl Friedrich Zelter bis hin zu dem jüdischen Kaufmann Hermann Gerson.
Auf Bewährung an die italienische Front gechickt
Zunächst erhielt Siedler Privatunterricht, später besuchte er Internate in Thüringen und auf der Nordseeinsel Spiekeroog, wo er nicht nur Schüler, sondern auch Marinehelfer war. 1944 wurden Wolf Jobst Siedler und sein Freund Ernst Jünger, Sohn des gleichnamigen Schriftstellers, wegen wehrkraftzersetzenden Äußerungen inhaftiert.
Der alte Ernst Jünger hat damals beide im Zuchthaus besucht und mit dafür gesorgt, dass sie auf Bewährung an die italienische Front geschickt wurden. Nur Wolf Jobst Siedler hat den Krieg überlebt und kam später in britische Gefangenschaft nach Nordafrika.
Zurück im Berlin der Blockadezeit lag die alte Welt in Trümmern. Wolf Jobst Siedler wurde Journalist und leitete schon bald das Feuilleton beim West-Berliner Tagesspiegel. 1963 übernahm er die Leitung des Propyläen-Verlags, später führte er die Buchverlage der Ullstein-Gruppe von Axel Cäsar Springer, bis er 1980 sein eigenes Verlagshaus gründete, das vor allem Bücher zur Zeitgeschichte, historische Abhandlungen, Memoiren und Biografien im Verlagsprogramm hatte.
Die Geistesverfassung Westdeutschlands ergründen
"Das ist einer der großen Vorzüge, sie haben es eigentlich nur mit hochinteressanten Autoren zu tun. Ob sie nun Golo Mann publizieren oder Dahrendorf, wenn Sie auf diesem Felde tätig sind und nicht auf dem Felde der Unterhaltungsliteratur, bringt es der Beruf notwendigerweise mit sich, dass Sie mit interessanten und zum Teil bedeutenden Leuten umgehen."
Es war ein intellektuelles Abenteuer, wird Siedler später sagen, und an diesem Abenteuer nahmen seine Leser teil, zumal er mit seinem Verlagsprogramm die Geistesverfassung der westdeutschen Republik ergründen wollte, die seit den Achtundsechzigern im Umbruch war. Auch wichtige Beiträge zum Historikerstreit sind bei Siedler erschienen.
Als Verleger wollte Wolf Jobst Siedler nie dem Zeitgeist dienen, der Blick richtete sich stets auf die großen historischen Zusammenhänge. Es gab auch Fehlgriffe, etwa die all zu große Wertschätzung Albert Speers, dessen Tagebücher und Erinnerungen Bestseller wurden. Doch Hitlers getreuer Vasall war kein verführter Bürger, sondern ein weitaus infamerer Nazi, als es Siedler zunächst wahrhaben wollte.
Fanal gegen Westberliner Betonbrutalismus
Wolf Jobst Siedler dachte quer zu allen festgefahrenen Konventionen. Mit dieser Haltung hat er seiner Heimatstadt Berlin oft die Leviten gelesen und mitunter West-Berlin unschätzbare Dienste erwiesen.
"Ich könnte argumentieren, wenn ich eitler wäre als ich bin, dass ich auch mit dieser Art von anspruchsvollen Essays öffentliche Bewusstseinsformen geweckt habe. Kein Mensch redete von den Grünen, von den Alternativen, es gab noch nicht mal Bürgerinitiativen, diese Themen und Positionen, die ich formuliert und vertreten habe, die sind ja dann später allgemeines Bewusstsein geworden."
1964 erschien das Buch "Die gemordete Stadt", der Essay und die Bilder wurden zum Fanal gegen den West-Berliner Betonbrutalismus und die damit verbundene ästhetische Verrohung und Gleichgültigkeit. Dabei hatte Siedler nicht nur Häuser, Plätze und Straßen gemeint, sondern auch die Architektur der bundesrepublikanischen Gesellschaft. 1981 hat er seine Haltung im RIAS noch einmal bekräftigt.
Eine noble Geisteshaltung
"Ich glaube die Architekten sind über weite Strecken hinaus mehr die Geschäftsführer des Zeitgeistes als die Wortführer. Sie vollstrecken dumpfe Stimmungen der Bevölkerung. Und ich glaube dass im Grunde wir über den Zeitgeist zu Gericht sitzen. Es ist eine sonderbare vergangenheitsfeindliche, stadtfeindliche Atmosphäre gewesen, die die Nachkriegszeit ja nicht nur im Bereich des Bauens sondern in allen Verhältnissen zum Geschichtlichen bestimmt hat."
1993 verkaufte Siedler seine Verlagsanteile an Bertelsmann, seitdem sind zwei Bände seiner Autobiographie erschienen, und er hat sich immer wieder als Essayist zu Wort gemeldet. Die Texte zeigen Siedler als tapferen Melancholiker. Ironie, wie sie Thomas Mann als Waffe gegen den Zerfall bemühte, war Wolf Jobst Siedler fremd. Als Autor und Chronist wollte er aus dem Zerfall des Bürgertums keinen ästhetischen Nutzen ziehen.
Wolf Jobst Siedler wird als großer Verleger und eigenwilliger Essayist in Erinnerung bleiben. Seine Melancholie entsprach einer selbstbewussten Kritik, die Gegenwart und Vergangenheit gleichermaßen zu verstehen und zu deuten suchte. Eine noble Geisteshaltung, die wir vermissen werden.
Mehr zum Thema