Wissenschaft in den Medien

"False Balance ist der größte Fehler der Journalisten"

54:21 Minuten
Lothar Wieler, Chef des Robert Koch-Instituts (RKI), ist in einem Monitor zu sehen, als er während einer Pressekonferenz spricht.
RKI-Chef Lothar Wieler zur Corona-Lage: Medien kommen in der Position als Vermittler im Moment eine besondere Verantwortung zu. © picture alliance / dpa / AP Pool / Markus Schreiber
Moderation: Philip Banse · 10.04.2021
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Wie wirksam sind die Impfungen, wie verbreitet sich das Virus? Fragen, an denen die Wissenschaft mit Hochdruck arbeitet. Doch Wissenschaft braucht Zeit. Medien berichten aktuell und haben den Anspruch, auch die Gegenseite abzubilden. Wie passt das zusammen?
Was die Wissenschaft in Bezug auf das Virus, seine Verbreitung oder die Impfstoffe herausfindet, hat großen Einfluss auf die Entscheidungen der Politik – und damit auf das Leben aller: in Form von Maskenpflicht, Impfempfehlungen oder Schulschließungen.
Doch Wissenschaft braucht Zeit, ihr Kenntnisstand ist vorläufig. Zudem hat die Pandemie noch einmal bewiesen, dass Wissen oder gar "Wahrheit" nur temporär ist, dass es also "sicheres" Wissen nicht gibt. Ein Fakt, der viele Menschen gerade in der Corona-Zeit fordert und manche auch überfordert.

Wie sollte die Berichterstattung über Wissenschaft aussehen?

Journalist*innen und Medien kommen in der Position als Vermittler eine besondere Verantwortung zu – und vielleicht auch eine besondere Chance. Gleichzeitig sind auch Medienmacher*innen nicht frei von Fehlern oder Emotionen und unterliegen den Produktionsbedingungen der Branche. Zudem ist mancher Fakt nicht nur vorläufig, sondern oft auch kontextabhängig interpretierbar.
Eine herausfordernde Gesamtlage, die zwar nicht neu ist, sich aber in der Pandemie in besonderer Weise zeigt. Wie sollte die Berichterstattung über Wissenschaft aussehen in einer Zeit, in der Forschung und ihre Ergebnisse eng mit dem Alltag verwoben und direkt an politische Interessen geknüpft sind?
Für eine Bestandsaufnahme und einen Blick auf die Möglichkeiten diskutiert Philip Banse mit der Neuro- und Kommunikationswissenschaftlerin Maren Urner, dem Wissenschaftsjournalisten Lars Dittrich und der Literaturwissenschaftlerin Nicola Gess.

Unterscheidung zwischen Positionen und Minderheitenmeinungen

Der Wissenschaftsjournalist Lars Dittrich kritisiert den Fokus der Medien auf reine Ergebnisse, anstatt auch Prozesse zu kommunizieren und zu erklären, wie Wissenschaftler*innen zu ihren Ergebnissen kommen. "Wenn ich verstehe, was in der Wissenschaft gemacht wurde, habe ich einen besseren Zugang dazu, was man damit sagen kann und was nicht. Dann bin ich auch weniger überrascht, wenn demnächst ein scheinbar gegensätzliches Ergebnis verkündet wird", erklärt Dittrich und nimmt damit auch Bezug auf die Ereignisse und Berichterstattung rund um den Impfstoff Astrazeneca.
Ein Problem bestehe auch im Anspruch des Journalismus, die Gegenseite darzustellen, sagt die Kommunikationswissenschaftlerin Maren Urner. Damit entstünden aber im Wissenschaftsjournalismus leicht "False Balances", bei denen einer Minderheitenmeinung ungebührlich viel Raum gegeben wird.
"Auch in der Wissenschaft ist es wichtig, verschiedene Positionen darzustellen. Aber eben nicht, wenn die sich nicht an den wissenschaftlichen Prozess halten", betont Urner. Darin unterscheidet sich der Wissenschaftsjournalismus von politischer Berichterstattung, in der auch über Werte diskutiert wird.

Kontextlose Darstellungen führen zu Tatsachenfetischismus

"Das Problem ist, dass in vielen Köpfen eine falsche Vorstellung von Naturwissenschaft herumspukt: dass 'die Wissenschaft' 'die Wahrheit' über Corona liefern könne. Und dass das Bewusstsein, dass wissenschaftliche Ergebnisse überholbar sind, zu fehlen scheint", sagt Nicola Gess.
"Wenn wissenschaftliche Tatsachen unabhängig vom Kontext präsentiert werden, führt das zu einer Art Tatsachenfetischismus, der es dann leichter macht, eine Allianz mit dem Umlauf von Meinungen einzugehen", so die Literaturwissenschaftlerin. Das heißt, der Unterschied von Meinungen und Tatsachen verwischt.
Deshalb sei es wichtig, betont Nicola Gess, "die Forschungsprozesse, die Begründungszusammenhänge, die Komplexität, auch die Selbstkritik von Wissenschaft, die Fragen, die Zweifel, das alles zu thematisieren und zu kommunizieren. Damit auch die Differenz zwischen irgendeiner Meinung, die sich nicht weiter begründen muss, und einer wissenschaftlichen Tatsache, die sehr komplexen Begründungszusammenhängen unterliegt, die der Tatsache vorausgegangen sind, klarzumachen."
Hören Sie das komplette einstündige Gespräch im Audio.

Das Team

Moderation: Philip Banse
Redaktion: Bettina Conradi und Vera Linß
Webredaktion: Nora Gohlke
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