Ein Jahr Pandemie

So viel Wissen über unser Nichtwissen

07:09 Minuten
Ein Apotheker, der den Schnelltest durchführt, wartet vor seiner Kabine auf die nächste Testperson.
Corona-Testzentrum in Essen: Alles ist auf eine Weise ungewiss, wie wir uns das im März 2020 nicht hätten vorstellen können, so Mathias Greffrath. © imago images / Rupert Oberhäuser
Gedanken von Mathias Greffrath |
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Von einem "Strudel aus Zahlen" und "Unsicherheiten der Virologen" sprach Mathias Greffrath zu Beginn der Covid-Pandemie. Wir sind noch mittendrin und ahnen, dass es nicht die letzte Pandemie sein wird, meint der Journalist und Autor ein Jahr später.
Nie zuvor, so formulierte es vor einem Jahr der Philosoph Jürgen Habermas, hatten wir so viel Wissen über unser Nichtwissen. Das war kurz vor den ersten Kontaktbeschränkungen.
Ein Jahr später ist alles auf eine Weise ungewiss, wie wir uns das im März 2020 nicht hätten vorstellen können. Ungewiss ist, wann ein normales Leben wieder möglich sein wird. Ungewiss, wie normal diese neue Normalität aussehen mag. Ungewiss, wie gravierend die wirtschaftlichen Folgen sein werden. Ungewiss, wie ein Jahr Schulalltag mit erhöhtem Medienkonsum die Seelen von Jugendlichen verändert haben wird.

Für eine Bilanz zu früh

Es ist noch zu früh, eine Bilanz zu ziehen. Wir sind noch mittendrin. Und wir ahnen, dass dies nicht die letzte Pandemie sein wird.
Und so könnten wir den Schwebezustand nutzen, um uns gesichertem Terrain zuzuwenden: dem gesammelten Wissen über die sogenannten "Vorerkrankungen" und über die Rahmenbedingungen der Leiden. Der vermeidbaren Leiden. Zu allererst über die Verschärfungen der Pandemie, über die wir schon lange gesicherte Erkenntnisse haben: unseren Lebensstil.
Zwei Drittel der schweren Coronaverläufe gehen auf Übergewicht, Diabetes, Bluthochdruck und Herzinsuffizienz zurück. Lebenslanges ungesundes Leben hat die meisten der betagten Toten wehrlos gemacht gegen das Virus.

Primärvorsorge rabiat stärken

Wenn diese Krise eine Chance ist, dann könnte Politik sie nutzen, um endlich die Primärprävention rabiat zu stärken: von der Förderung betrieblicher Gesundheitsprojekte über gesundes Kantinenessen, das Verbot von Werbung für krankmachende Nahrung durch Influencer in den sozialen Medien bis hin zu einer gesundheitsfördernden Marktordnung.
Möglich ist das: So hat zum Beispiel die britische Regierung Corona gerade genutzt, um ein Verbot für süße Quengelware an den Supermarktkassen anzukündigen. Bei uns beschränkt sich die zuständige Ministerin darauf, das Problem "stärker in den Blick zu nehmen" und auf freiwillige Selbstbeschränkungen der Produzenten und der Konsumenten zu setzen.
Diese Selbstbeschränkung hat Methode.

Gegen soziale Ungleichheit angehen

Politiker, die Rahmenbedingungen für eine ökologisch wie gesundheitsverträgliche Ernährungsindustrie stärken wollen, müssten sich nicht nur mit der stärksten Lobby anlegen und gegen die eingefleischten Gewohnheiten ihrer Wähler angehen. Sondern auch gegen die Ungleichheit.
Denn die Lebensstilkrankheiten mit Todesfolgen sind häufiger bei Patienten aus "bescheidenen Verhältnissen" anzutreffen – und das nicht nur aus migrantischen Großfamilien, die als Sündenböcke herhalten und den strukturellen Skandal verdrängen helfen, dass im unteren Zehntel der sozialen Skala schon immer zehn Jahre eher gestorben wird als im Oberen.
Unten ist man eben nicht nur ärmer, ernährt sich nicht nur ungesunder, sondern ist auch uninformierter und ungebildeter.
Dass die Schule ein Ort ist, an dem durch Ungleichheit erzeugtes, also vermeidbares Leiden produziert wird - auch das ist längst eine triviale Wahrheit, nicht erst seit Corona. Die durch die Lockdowns verstärkten Rufe nach beschleunigter Digitalisierung der Schule greifen deshalb zu kurz.

Mehr Lehrpersonal wichtiger als mehr Digitalisierung

Angesichts einer komplexeren und bedrohlicheren Zukunft und überforderter Eltern, angesichts gesteigerter Spielsucht, Bewegungsarmut und Aggressivität muss Bildung weit mehr sein als Wissensvermittlung.
Eher als Tablets auf jeder Schulbank brauchen wir mehr Lehrer, mit genug Zeit, um Mentoren zu sein im Dickicht der Meinungsblasen, im chaotischen Wirbel der Lebensentwürfe, in den immer schneller aufeinanderfolgen Brüchen in der Arbeitswelt.
Attraktivere Lernorte und eine Intensivierung des Lernens in kleinen Gruppen sind nötiger als die Delegierung der Didaktik an die Lernsoftware multinationaler Medienkonzerne.
Der Bundespräsident hat für den 18. April eine nationale, zentrale Trauerfeier für die Coronatoten angeregt und angesetzt, damit wir "als Gesellschaft innehalten" können, den "Hinterbliebenen eine Stimme geben (und) in Würde Abschied nehmen von den Toten". Bei Familienbegräbnissen klagen wir nicht nur über die Gestorbenen, sondern reden und reflektieren über das eigene Leben und die Zukunft der Enkel.

Die blinden Flecken der Trauer aufhellen

Böte also eine politische Trauerfeier nicht auch die Gelegenheit, diese und andere blinde Flecken der Trauer aufzuhellen, über nötige Reformen nachzudenken und über das, was diesen Reformen im Wege steht? Vielleicht auch über den real existierenden Föderalismus und seine Blockaden bei der Lösung logistischer Probleme in der Versorgung mit Masken, Tests und Impfstoff?
Die anschwellenden Klagen über die Einschränkung von Freiheitsrechten könnten uns veranlassen, über das Verhältnis der Freiheit aller zum Selbstverwirklichungstrieb der einzelnen nachzudenken. Über eine Neuordnung von Rechten und Pflichten, "Warum", so fragt der Staatsrechtler Christoph Möllers, "habe ich ein Recht zu erben, aber nicht eines auf Erziehung im Kindergarten?"
Die ökonomische Ausradierung des Mittelstandes durch die beschleunigte Amazonisierung des Handels im Coronajahr. Die globale Marktmacht der Pharmaindustrie, die mit Milliardensubventionen öffentlicher Gelder Impfstoffe entwickelt hat, deren Patentierung eine schnelle Immunisierung auch der armen Länder verhindert. Die Zerstörung der demokratischen Öffentlichkeit durch Fake News – all das sind doch im Zusammenhang mit Corona verschärfte Probleme, deren Thematisierung einer politischen Gedenkfeier gut anstünde.

Debatten über große Alternativen anstoßen

Der Bundespräsident ist der Ersatzmonarch unserer Demokratie. Mit seinem Vorschlag einer nationalen, zentralen Gedenkfeier will er der kollektiven Trauer einen Raum geben. Nur der Trauer? Nie zuvor hatten wir so viel Wissen über das, was zu tun ist. Der Bundespräsident steht, so will es die Verfassung, über dem Streit der Parteien und der Lobbys.
Wenn grundlegende Analysen und Debatten über die großen Alternativen nicht mehr parlamentsfähig sind und in den Meinungsblasen der fragmentierten Öffentlichkeit keinen Raum finden, dann brauchen sie ein anderes Podium. Eines, das demokratisch legitimiert ist, von dem aus wir die Zukunft erkunden können, und das beachtet wird. Das Schloss Bellevue wäre kein schlechter Ort dafür – vorausgesetzt, es wird gestreamt.
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