Willy Vlautin: "Nacht wird es immer"

Der Aufstieg bleibt ein Wahnbild

06:25 Minuten
Buchcover: "Nacht wird es immer" von Willy Vlautin
Auch in "Nacht wird es immer" von Willy Vlautin tauchen wir ein in den Orkus derer, für die Aufstieg ein Wahnbild bleibt. © Deutschlandradio / Berlin Verlag
Von Gabriele von Arnim · 01.09.2021
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Eine junge Frau, psychisch schwer angeschlagen, versucht, für ihre Familie allen Widerständen zum Trotz den Traum vom eigenen Haus zu erfüllen. Ein hochpolitischer Roman über das Scheitern der am Erfolg orientierten Maximen der US-Gesellschaft.
Der Amerikaner Willy Vlautin, 1967 in Reno, Nevada geboren, ist Leadsänger seiner Band The Delines, spielt Gitarre und schreibt so ruppig wie melodiös, so glashart wie ergreifend Romane über Menschen am Rande der Gesellschaft. Menschen, die beharrlich festhalten am amerikanischen Traum, um als Träumer kläglich zu scheitern. Sie darben im Dunkel der Verworfenen, träumen vom kleinen eigenen Haus, einer bescheidenen Existenz und geraten angesichts explodierender Immobilienpreise und Mieten irgendwann grundguten Herzens und verzweifelt auf zwielichtige Bahnen.

Der Autor kennt das Milieu

Vlautin kennt das Milieu, über das er schreibt. Er ist aufgewachsen darin – und ihm entkommen. "Würde ich über Ärzte oder Anwälte schreiben", hat er einmal gesagt, "so wäre das, als ob ich über Drachen oder Raumschiffe schreiben würde."
Auch in diesem Roman tauchen wir ein in den Orkus derer, für die Aufstieg ein Wahnbild bleibt. Nein, wir werden eingetaucht, untergetaucht, mitgerissen und schnappen nach Atem.
Lynette lernen wir kennen als überforderte, verantwortungsvolle, liebevolle junge Frau, die ihren behinderten Bruder versorgt. So gut sie kann. Wenn sie zur Arbeit geht, muss sie ihn schon mal stillstellen mit einer Beruhigungspille und einer DVD. Manchmal kümmert sich auch die erschöpfte Mutter, die allerdings nach der Arbeit meist kettenrauchend und hin und wieder Gin saufend auf dem Sofa liegt.

Geflohen vor Missbrauch

So weit, so schlecht. Doch nach und nach entfaltet sich das wirkliche Drama der Familie. Lynette ist geflohen vor Missbrauch, ist psychisch zusammengebrochen, nervlich ausgetickt, hat als Prostituierte gearbeitet. Und sie tut es immer noch – neben Jobs in einer Bar und einer Bäckerei.
Sie will alles wieder gutmachen, will sich im Griff haben, will Geld verdienen, will das vergammelte Haus kaufen, für die Mutter, den Bruder, für sich. Der Eigentümer hat ein gutes Angebot gemacht. Aber dann macht die Mutter ihr einen Strich durch die Rechnung und kauft sich, nur für sich, auf Pump ein teures, nagelneues Auto.
In der Nacht, in der wir Lynette begleiten, versucht sie bei allen Menschen das Geld einzutreiben, das die ihr schulden. Es ist eine feine Gesellschaft, die wir kennenlernen – von dollarsatten Lügnern, drogenzerbröselten Gaunern, gewalttätigen Ex-Knackis, die Lynette belügen, betrügen, würgen und mit Messern attackieren.
Und auch sie teilt aus, auch sie klaut, wenn es nicht anders geht. Und führt zugleich mitten in gruseligen Bedrohungsszenarien begütigende Gespräche mit ihren Angreifern. Weil sie nicht versteht, wieso die nicht ihr Wort halten können. Lynette bleibt auch dann ein freundlicher Mensch, wenn sie gerade mal jemanden mit Pfefferspray schachmatt setzen muss.

Familien- und Gesellschaftsdrama

Vlautin erzählt von der jungen Frau, diesem beschädigten, sehnsüchtigen, eigensinnigen Elends- und Kraftgeschöpf, mit Zärtlichkeit und großem Respekt. Und selbst die seelenkalte Mutter zeichnet er in ihrer Egozentrik als Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse.
Denn was als Familiendrama daherkommt, ist ein hochpolitischer Roman. Der der amerikanischen Gesellschaft schonungslos das Scheitern ihrer allein am Erfolg orientierten Maximen vorführt.

Willy Vlautin: "Nacht wird es immer"
Aus dem Englischen von Nikolaus Hansen
Berlin Verlag, Berlin/München 2021
288 Seiten, 25 Euro

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