Flucht aus Las Vegas

03.04.2009
Zuerst hat er sich als Folkmusiker einen Namen gemacht. Dann fing er an zu schreiben und machte mit seinem Debütroman "Motel Life" auf sich aufmerksam. Jetzt ist auf Deutsch Willy Vlautins zweiter Roman erschienen. "Northline" heißt er, weil eine Figur daran einfach einer Linie in Richtung Norden folgen will, um Las Vegas zu verlassen.
"Sie waren über ihnen, die Zirkusleute, in Kostümen, schwangen sich an Seilen hin und her. Unter ihnen war ein Netz gespannt, und in einer Ecke spielte lahm eine kleine Kapelle, fast im Dunkeln. Buntes Scheinwerferlicht folgte den Artisten, und ein Ansager stelle sie vor und erklärte der sich versammelnden Menge, was es zu sehen geben würde."

"Circus, Circus" heißt das erste Kapitel in Willy Vlautins Roman "Northline", das der Patmos Verlag als Hörbuch produziert hat. Schnell wird klar. Dies ist keine gewöhnliche, trockene, sondern eine aufwändig inszenierte Lesung. Im "Circus, Circus" in Las Vegas kann man Artisten zusehen oder an Spielautomaten zocken. Die 22-jährige Kellnerin Allison Johnson ist alles andere als in Zirkus- oder gar Spiellaune. Dazu ist sie viel zu betrunken. Ihr Freund Jimmy nötigt sie, mit ihm auf der Behindertentoilette Sex zu haben. Dabei kippt Allison um und schlägt sich den Kopf auf.

"Er sah sie an, das Blut, das wieder floss und aus der Wunde tropfte. Er sah die kleine Urinpfütze, in der sie saß, und trat sie. Nur einmal, aber so fest er konnte, mit seinen Stahlkappenstiefeln. Trat ihr ans Bein, über dem Knie."

Nicht nur, dass Jimmy seine Freundin tritt, schlägt und ihr Handschellen anlegt, außerdem ist er ausländerfeindlich und nimmt andauernd Speed. Die Alkoholikerin Allison hat zwei Wünsche: nicht mehr zu trinken und nicht mehr mit Jimmy zusammen zu sein. Schauspielerin Nicolette Krebitz bringt uns diese verletzte und verletzliche junge Frau nahe. Fein nuanciert liest Krebitz die Rolle der Allison, die vor ihrer Vergangenheit flieht.

Als ihr Freund Jimmy auf einer Party in der Wüste etliche Kilometer von Las Vegas entfernt ein Mädchen vor den Augen Allisons küsst, haut sie ab. Ein Lkw-Fahrer nimmt die junge Frau mit. Und sie erzählt ihm, dass sie von Jimmy schwanger ist:

"Haben Sie jemals ein Ufo gesehen?
Nein.
Ich auch nicht.
Das wird schon. Wenn du dich der Sache erst mal stellst, wird alles gut. Du musst jetzt an dein Baby denken. Wenn du dir das erst mal eingestehst, weißt du, was du zu tun hast."

Regisseur Felix Partenzi hat mit Geräuschen Atmosphäre geschaffen und in den Dialogpassagen die jeweiligen Stimmen ineinander verschränkt. Damit wird der Eindruck verstärkt, es sprächen tatsächlich zwei Personen miteinander. Allison zieht dort hin, wo der Lkw-Fahrer auch lebt und wo Folkmusiker und Schriftsteller Willy Vlautin 1967 geboren wurde: nach Reno. Da bekommt sie ihr Kind, gibt es zur Adoption frei und hasst sich dafür. Da erscheint ihr im Traum der Schauspieler Paul Newman, dessen Filme sie liebt:

"Schluss jetzt, Schluss!
Er hatte Tränen in den Augen.
Tu mir das nicht an – bitte!
Er klammerte sich an sie und weinte.
Ich kann nicht anders.
Kannst du doch.
Es wäre einfacher so.
Nein, nicht für mich.
Ich bin aber so müde.
Das weiß ich. Hör mal, zusammenklappen ist okay, aber man darf einfach nicht aufgeben."

Paul Newman, gesprochen von seiner Synchronstimme Otto Mellies, erscheint der jungen Alkoholikerin ein paar Mal. Er verkörpert für sie all das, was ihr fehlt: Halt im Leben. Anders ist das mit Dan. Allison lernt ihn in dem Restaurant kennen, in dem sie arbeitet. Sie erkennt sich in ihm wieder. Dan ist traumatisiert, seit er von jungen Leuten krankenhausreif geschlagen wurde.

"Ich traue mich kaum in ein Lokal, wo Leute meines Alters sind.
Mich hat es auch immer zu alten Leuten hingezogen, sagte das Mädchen.
Ich fühle mich gezeichnet, verstehst du? Nicht nur wegen meinem Gesicht und meinem Auge. Es ist nicht bloß, dass ich nicht mehr gut aussehe.
Ich fühle mich auch gezeichnet.
Ich hoffe, es stimmt bei uns beiden nicht.
Ich auch. Ich auch."

Regisseur Felix Partenzi ist mit "Northline" eine herausragende Hörbuchproduktion gelungen. Daran hat Nicolette Krebitz einen entscheidenden Anteil. Die unterlegten Lieder von Willy Vlautin und die Geräusche machen es dem Hörer so leicht, in die Welt der jungen verzweifelten Trinkerin zu versinken, dass man sich gewünscht hätte, nicht nur einer gekürzten Fassung des Romans lauschen zu können.

Rezensiert von Tobias Wenzel

Willy Vlautin: Northline
Roman. Leicht gekürzte, inszenierte Lesung.
Gelesen von Nicolette Krebitz und Otto Mellies
Patmos Verlag 2009. 4 CDs
298 Minuten , 26,95 Euro