Krieg in Europa

Wie Putins Machtwille die Welt verändert

53:51 Minuten
Porträt von Wladimir Putin vor zwei Mikrofonen. Er guckt böse, während er spricht und hat die Faust erhoben, als wolle er damit auf den Tisch hauen.
Wladimir Putins Machtwille verändert die Welt. Seine verfehlte Weltsicht und ein bizarres Geschichtsverständnis führten zum Krieg gegen die Ukraine. © picture alliance / dpa
Moderation: Christian Rabhansl · 04.06.2022
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In seinem aktuellen Buch analysiert der ehemalige Diplomat Rüdiger von Fritsch den Machtwillen Wladimir Putins und den Angriff auf die Ukraine. Hinter diesem Krieg steht ein verfehltes Geschichtsbild, zeigt der Historiker Stefan Creuzberger.
Das aktuelle Buch des Historikers Stefan Creuzberger wurde für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert. In „Das deutsch-russische Jahrhundert“ zeigt er, welchen Einfluss das Verhältnis beider Länder auf die Weltpolitik gehabt hat.
Dieses Verhältnis hat die Politik Wladimir Putins mitgeprägt. Als ehemaliger Botschafter Deutschlands in Russland hat Rüdiger von Fritsch Putin mehrfach getroffen. In seinem aktuellen Buch „Zeitenwende“ analysiert er dessen Politik bis zum Angriff auf die Ukraine.

Konfrontation pur von Anfang an

Mit dem Tag der Krim-Annexion im Jahr 2014 traf er als deutscher Botschafter in Moskau ein, erzählt er im Essener Grillo Theater. Bei der Übergabe seiner Ernennungsurkunde traf er erstmals Wladimir Putin. „Ein Diplomat versucht am Beginn seines Postens erst mal freundlich Kontakte aufzubauen, sich kennenzulernen, Vertrauen zu schaffen. Und das war in dieser Situation völlig unmöglich. Und das erste Gespräch, das ich führte, war Konfrontation pur. Und davon war die Zeit insgesamt stark bestimmt.“
Bild von der Seite. Rüdiger von Fritsch steht zwischen Wladimir Putin und Außenminister Lawrow.
Rüdiger von Fritsch bei der Überreichung seiner Ernennungsurkunde als Deutscher Botschafter in Russland. Bereits die erste Begegnung mit Wladimir Putin war von Konfrontation geprägt, erzählt von Fritsch.© picture alliance / dpa
Fünf Jahre später, im Jahr 2019, war Wolodymyr Selenskyj gerade Präsident der Ukraine geworden und von Fritsch traf bei seinem Abschied aus Moskau ein letztes Mal mit Putin zusammen.
Der neue Präsident des Nachbarlandes sei doch eine gute Gelegenheit, auf die Ukraine zuzugehen, habe von Fritsch Putin vorgeschlagen. „Seiner Antwort konnte man entnehmen, dass der junge Mann es offenbar an Respekt hatte fehlen lassen und sich nicht so benahm, wie der Präsident eines kleinen Nachbarlandes sich gegenüber dem Präsidenten des großen Russlands zu benehmen hat. Und da wurde mir klar, dass das ein schwieriges Verhältnis werden wird“, erzählt von Fritsch.

„Kalte Krieger“ gegen „Putin-Versteher“

Nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 habe es bei uns sehr kontroverse Debatten geben, sagt Stefan Creuzberger. Es gab zwei Lager: Die Kritiker, die despektierlich als „Kalte Krieger“ bezeichnet wurden, und die „Putin-Versteher“. Und alle konnten rückblickend plötzlich sagen, was in der Vergangenheit falsch gemacht wurde.
Creuzberger betont: „Ja, wir müssen Russland verstehen. Aber verstehen heißt nicht billigen. Das, was im Augenblick in Russland abläuft – und nicht nur jetzt, auch schon 2014 oder 2007/2008 im Georgien-Krieg – das kann ich nicht billigen.“
Porträt von Stefan Creuzberger.
Mit seinem Buch "Das deutsch-russische Jahrhundert" war Stefan Creuzberger für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert.© picture alliance/dpa
Creuzberger fordert in Bezug auf die Debatte, den historischen Kontext zu verstehen und historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
„Wenn ich mir nur die Zeit seit den 90er-Jahren anschaue und mir  in der Berichterstattung anhören muss, die deutsche Russlandpolitik der letzten 30 Jahre hat versagt, das ist mit Verlaub derartig ahistorisch und übers Ziel hinausgeschossen. Das geht so nicht. Es sind Dinge korrekt und gut gelaufen, es sind auch Dinge falsch gelaufen. Wir müssen uns die Handlungsspielräume der Akteure vergegenwärtigen. Was konnten sie wissen? In welchen Sachzwängen standen sie? Und diese Dinge sind mir einfach wichtig und deswegen plädiere ich für eine Versachlichung dieser Diskussion.“

Bis zuletzt gab es Regeln

Rüdiger von Fritsch stimmt dem zu. Um die gegenwärtige Lage zu verdeutlichen, nutzt er in seinem Buch das Bild vom Schachspiel. Er schreibt: „Wladimir Putin hat das Schachbrett umgeworfen. Das bedeutet aber nicht, dass die Regeln des Schachspiels falsch sind und die bisherigen Züge falsch waren.“
Von Fritsch betont, es habe Regeln gegeben. Man habe schon während des Kalten Krieges mit der Sowjetunion und auch danach mit Russland versucht, gemeinsam Sicherheit in Europa herzustellen. Das habe bis zuletzt gegolten. Wladimir Putin hat sich noch 2015 auf eine diplomatische Lösung für den Ukrainekonflikt eingelassen. Die Interessen des jeweils anderen zu berücksichtigen und so zu versuchen, Sicherheit herzustellen, wäre der richtige Weg gewesen, sagt er.
In den 70er-Jahren sei das durch Rüstungskontrolle, durch Abrüstung geschehen. Die KSZE sei „ein großer Wurf“ gewesen. Und nach dem Ende des Kalten Krieges habe es eine ungeheure Ausweitung des Dialogs durch den Austausch in der Kultur und der Zivilgesellschaft gegeben. Es sei zu wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Begegnungen gekommen. Das alles sollte die gemeinsame Zukunft auf dem europäischen Kontinent sichern.

Die neue Ära der Konfrontation

„Am 24. Februar 2022 hat Wladimir Putin das Schachbrett insofern umgeworfen, als dass er gesagt hat, das sind nicht mehr die Regeln, nach denen ich spiele. Ich will keinen Dialog, ich will keine Diplomatie, ich will keine gemeinsamen Regeln, Sicherheit zu schaffen. Ich wähle die Konfrontation.“
Das sei das Merkmal einer neuen Ära. „Wir sind in einer Phase der Konfrontation, wie wir sie in der ersten Phase des Kalten Krieges erlebt haben. Wir müssen nun versuchen, wie in der zweiten Phase des Kalten Krieges, eine geordnete Konfrontation zu bekommen, um sicher zu stellen, dass diese Situation nicht eskaliert“, so von Fritsch.
An einem Tisch sitzt Außenminister Joachim von Ribbentrop und unterzeichnet den Hitler-Stalin-Pakt. Am rechten Bildrand hinter ihm steht Josef Stalin.
Außenminister Joachim von Ribbentrop unterzeichnet den Hitler-Stalin-Pakt. Hinter ihm (links) Wjatscheslaw M. Molotow Jossif W. Stalin (rechts).© picture-alliance / AKG
Um die Gegenwart zu verstehen, zeichnet Creuzberger in seinem Buch die Entwicklung des deutsch-russischen Verhältnisses über ein Jahrhundert nach. Bereits 1917, während des Ersten Weltkriegs, verhalf die deutsche Oberste Heeresleitung Lenin dazu, nach Russland zu kommen. Die Deutschen haben damit unbewusst zur Oktoberrevolution beigetragen.
Nur wenige Jahre später, 1922, nimmt die Weimarer Republik diplomatische Beziehungen zu Sowjet-Russland auf. Mit dem Vertrag von Rapallo tragen die Deutschen dazu bei, dass die junge Sowjetmacht sich konsolidieren kann, so Creuzberger.
Und 1939 kommt es zum Hitler-Stalin-Pakt mit einem geheimen Zusatzprotokoll, in dem sich die beiden Diktatoren Osteuropa in Einflusssphären aufteilen. Das sei der Beginn der Sowjetunion als eine Regionalmacht und der Beginn des Aufstiegs zur Welt- und Supermacht gewesen, analysiert der Historiker Creuzberger.

Einflussnahme auf deutsche Wissenschaftler

Daraus resultiere eine besondere Verantwortung Deutschlands, meint von Fritsch. Man müsse den deutschen Partnern die Angst nehmen, dass es zu einem zweiten Rapallo komme, zu einer deutsch-russischen Verständigung, die die Partner Deutschlands nicht mit einbeziehe. Es sei fatal gewesen, dass aus Deutschland Lösungsvorschläge öffentlich gemacht wurden, die Ukraine könne doch dieses oder jenes tun oder auf die Krim verzichten, sagt von Fritsch. „Das letzte, was Ost- und Mitteleuropa braucht, sind deutsche Territorialvorschläge zu Russlands Gunsten über die Köpfe anderer hinweg.“
Anlässlich des Jahrestages des Kriegsendes hatte die russische Botschaft einen Brief an Wissenschaftler verschickt, die sich mit sowjetischer und russischer Geschichte beschäftigt haben. Auch Creuzberger hat diesen Brief bekommen. Darin wurden die Wissenschaftler  aufgefordert, bei der Ausbildung von Studenten mehr die Rolle Polens im Zweiten Weltkrieg als die eigentlichen Kriegstreiber zu vermitteln.
Das decke sich mit der neuen Haltung in Moskau und auch damit, dass jüngst in der Verfassung aufgenommen wurde, dass, wer Stalin im Kontext des Hitler-Stalin-Paktes kritisiert, mit Gefängnis bestraft wird. Creuzberger betont, die Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg liege ganz klar bei Deutschland. Doch diese Geschichtsklitterung soll den Anteil der sowjetischen Seite am Zustandekommen des Hitler-Stalin-Paktes und des Kriegsausbruchs umdeuten.

Bizarre Umdeutung der Geschichte

Das sei eine Pervertierung der Geschichte, sagt von Fritsch. In Russland sei es verboten, das Handeln der sowjetischen Regierung und der Roten Armee während des „Zweiten Weltkrieges“ zu kritisieren. Dieser Terminus werde in Russland eigentlich gar nicht benutzt, denn man spreche eigentlich immer nur vom „Großen Vaterländischen Krieg“. Und dieser Krieg ging von 1941, dem deutschen Angriff auf Russland, bis zum Kriegsende 1945.
Von Fritsch erklärt, was das eigentlich bedeutet: „Wenn man jetzt nicht mehr das Verhalten während des Zweiten Weltkrieges kritisieren darf, dann sind damit die Verbrechen der Sowjetunion gegenüber Polen gemeint: Der Überfall auf Polen, die Annexion der baltischen Staaten, die Annexion von Teilen Rumäniens, die Massenmorde an polnischer Intelligenz – all das darf nicht mehr kritisiert werden.
In einer bizarren Form wird der Ausgang des Zweiten Weltkriegs dafür genutzt, um das jetzige Handeln Wladimir Putins zu rechtfertigen.“
Porträt von Rüdiger von Fritsch, der eine Handbewegung macht, um etwas zu betonen.
Rüdiger von Fritsch sagt, Putin habe das Schachbrett umgeworfen. Das bedeute aber nicht, dass die Regeln des Schachspiels falsch sind. © picture alliance / Mikhail Japaridze / tass / dpa
Der Sieg über den Faschismus sei das Letzte, was das Volk mit Putin noch zusammenführen könne. Das nutze er und übertrage das auf sein jetziges Handeln. Deshalb müsse er jetzt ständig behaupten, man bekämpfe in der Ukraine den Faschismus, was völlig bizarr sei, so von Fritsch.
Dass es in Russland nicht mehr möglich sei, über die Geschichte des Zweiten Weltkriegs so zu sprechen, wie es historisch gewesen ist, zeige, dass Russland am Übergang von einem autoritären Staat zu einer Diktatur sei, so von Fritsch.

Autoritärer Führer außer Kontrolle

„Wir haben es mit einem Präsidenten zu tun, der in Verschwörungskategorien denkt, das ist ihm anerzogen worden. Außerdem, und das ist wichtig zu erkennen, ist er der klassische autoritäre Führer, der von niemandem mehr kontrolliert wird. Seine Umgebung regiert er wie das ganze Land mit Käuflichkeit, Repression und der großen Lüge der Propaganda. Das führt dazu, dass auch seine Umgebung in Furcht lebt. Und das wiederum führt dazu, dass er nicht mehr gut beraten wird.
Die Repression und die Unterdrückung jedes anderen Denkens und jeder freiheitlichen Regelung geschehen nur deshalb, weil Putin Angst vor der Reaktion des Volkes habe, ist von Fritsch überzeugt.
Im Essener Grillo Theater sprechen von Fritsch und Creuzberger auch darüber, wie der Krieg gegen die Ukraine zu beenden wäre, welche Wege aus der Repression unter Putin führen können und wie eine Welt nach Putin aussehen könnte.

Stefan Creuzberger: „Das deutsch-russische Jahrhundert“
Rowohlt Verlag, Hamburg 2022
672 Seiten, 36 Euro

Rüdiger von Fritsch: „Zeitenwende – Putins Krieg und die Folgen“
Aufbau Verlag, Berlin 2022
176 Seiten, 18 Euro

Die Lesart aus dem Grillo-Theater Essen ist eine Kooperation von Deutschlandfunk Kultur mit dem Schauspiel Essen, der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung und der Buchhandlung Proust.

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