Wie man das Kriegsbeil richtig begräbt

Rezensiert von Ernst Piper · 08.08.2010
In der Antike und im Mittelalter galt das Beschweigen vergangenen Übels als bestes Mittel, Frieden zu erreichen. Erst die Greuel des 20. Jahrhunderts hätten eine ganz neue Art der Konfliktbewältigung gebracht, meint der Historiker Christian Meier.
Beinahe 25 Jahre ist es her, dass deutsche Historiker in einer erbitterten Kontroverse, dem sogenannten "Historikerstreit", sich über die Frage der Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung auseinandergesetzt haben. Vorsitzender der deutschen Historiker war damals der Althistoriker Christian Meier. Inhaltlich neigte er deutlich erkennbar zur Gruppe derjenigen, die die Einzigartigkeit dieses Verbrechens betonten. Zugleich tat Meier als Verbandsvorsitzender alles, um moderierend auf die streitenden Parteien einzuwirken, die Wogen zu glätten und einer sachbezogenen Diskussion Raum zu schaffen. Meiers Forscherinteresse galt seit je vor allem der griechischen Antike, aber er war zugleich immer ein wacher, politisch interessierter Zeitgenosse, der mit großer Sachkunde und auf hohem Reflexionsniveau seine Stimme auch in aktuellen Debatten erhoben hat.

"Erinnern - Verdrängen - Vergessen. Wenn man die Frage so stellt, ist klar, dass es sich um Erinnerung an Schlimmes handelt, sonst bräuchte es ja kein Verdrängen. Schlimmes - dieses Wort soll hier und im Folgenden ganz formal gebraucht werden: das heißt unabhängig vom absoluten Ausmaß und der Qualität dessen, was jeweils angerichtet worden ist. Die willkürliche Tötung einiger hundert Griechen soll also ebenso darunter fallen wie der weitgehend fabrikmäßige Mord an 6 Millionen Juden im Zweiten Weltkrieg. Wichtig ist nur, dass es um den Umgang mit sehr störender, zu Schaffen machender Erinnerung gehen soll, und zwar für Gemeinwesen. Die Frage ist, wie damit fertig werden."

Ausgangspunkt seines Essays ist ein paradoxer Befund. Da ist auf der einen Seite die Überzeugung, dass nur stete Erinnerung an die namenlosen Untaten des Nationalsozialismus vor der Gefahr eines Rückfalls in die Barbarei bewahren kann. Uns, die wir in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg aufgewachsen sind, ist diese Position sehr präsent, und sie erscheint uns auch absolut plausibel. Es gab keinen seriösen Widerspruch, als Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 sagte: "Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren." Diese Haltung hat auch dazu geführt, dass nach vier Verjährungsdebatten der Deutsche Bundestag die Verjährungsfrist für Mordtaten 1979 schließlich ganz aufgehoben hat.

Genau entgegengesetzt ist eine andere Überzeugung, die davon ausgeht, dass vergangene Übel nur dadurch überwunden werden können, dass sie vollständig aus dem Gedächtnis getilgt werden. Christian Meier zeigt, dass diese dem Gebot der Erinnerung diametral widersprechende Auffassung über Jahrtausende hinweg die vorherrschende war. Ausgehend von der griechischen Antike führt er eine Fülle von Beispielen dafür an. So wurde etwa in Milet ein Dichter zu einer hohen Geldstrafe verurteilt, weil er eine Tragödie geschrieben hatte, die an ein schlimmes Ereignis der Stadtgeschichte erinnerte und die Zuschauer stark erschüttert hatte. Weitere Aufführungen des Stückes wurden verboten. Die Vergangenheit wurde als Belastung empfunden, Heilung versprach man sich vom gemeinsamen Beschweigen.

Auch im Mittelalter folgte dem Friedensschluss das Vergessen und die Vergebung. Das schloss die Frage nach der Schuld am Kriegsausbruch nicht aus, doch zog Schuldanerkenntnis in der christlichen Ethik die Vergebung unweigerlich nach sich. Dies galt auch noch in der Neuzeit. Nach Kriegen, Bürgerkriegen und Revolutionen wollte man die aufgerissenen Gräben wieder zuschütten, das Kriegsbeil begraben, auf dass es nicht mehr gefunden werde, und so Voraussetzungen für einen von Erinnerungen unbelasteten Neubeginn schaffen. Der französische König Heinrich IV. ordnete 1598 im Edikt von Nantes an, dass die Erinnerung an das, was beide Seiten im vorausgehenden Religionskrieg einander angetan hatten, "ausgelöscht und eingeschläfert" werden solle. Jede Erwähnung des Geschehenen war fortan verboten. Folgerichtig war auch die Strafverfolgung der Täter untersagt. Wer sich an diese Anordnung nicht hielt, wurde als Friedensbrecher und Feind der öffentlichen Ordnung bestraft.

Diese Art der Konfliktbewältigung blieb bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts dominant. Das erste Dokument, in dem sich ein ganz neues Denken Bahn bricht, ist der Versailler Friedensvertrag vom Juni 1919. Der Erste Weltkrieg war ein Krieg mit völlig neuen Dimensionen gewesen, der ganze Landschaften verheert und Millionen Tote und Verwundete zurückgelassen hatte. Bis dahin hatte Krieg - bei Beachtung gewisser Regeln - als ein legitimes Mittel zur Durchsetzung staatlicher Interessen gegolten, nun wurde er von den Siegermächten als "das größte Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gegen die Freiheit der Völker" geächtet.

Der deutsche Kaiser sollte wegen "schwerster Verletzung des internationalen Sittengesetzes und der Heiligkeit der Verträge" vor ein internationales Gericht gestellt werden. Das scheiterte nur daran, dass Wilhelm II. Zuflucht in den Niederlanden suchte, die sich weigerten, ihn auszuliefern, dennoch markiert dies den Beginn einer neuen Epoche. In den 20-er Jahren wurden vor dem Reichsgericht in Leipzig eine ganze Reihe von Kriegsverbrecherprozessen geführt, die sogenannten Leipziger Prozesse. Das war der erste Versuch, Kriegsverbrechen juristisch zu bewältigen.

Im Nachhinein erscheint dies wie ein Präludium für die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Holocaust, die mit dem Hauptkriegsverbrecherprozess 1946 in Nürnberg begann und bis heute andauert. Angesichts dieses singulären Menschheitsverbrechens kommt es zu einem radikalen Paradigmenwechsel. Christian Meier formuliert es so:

"Überblickt man die Geschichte des öffentlichen Umgangs mit schlimmer Vergangenheit, so ergibt sich, dass sich Deutschland seit 1945 in einer welthistorisch völlig neuen Situation befindet. Es war etwas geschehen, was in einem völlig neuen Sinn ungeheuerlich war; über alles hinaus, was die Weltgeschichte bis dahin an Kriegs-Untaten und Gräueln gekannt hatte. Das Land war nicht nur militärisch und politisch, sondern auch moralisch zusammengebrochen."

Es hat lange gedauert, bis diese Tatsache auch im Bewusstsein der Deutschen angekommen ist. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten wurde die Judenvernichtung in den Geschichtsbüchern kaum thematisiert. Heute dagegen steht Auschwitz im Zentrum jeder Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Der Ortsname ist zur Chiffre geworden für ein Geschehen, das jenseits aller Geschichtsschreibung stets präsent ist. Noch einmal Christian Meier:

"In der Geschichte von Erinnern - Verdrängen - Vergessen stellt Auschwitz etwas völlig Neues dar. Es kann im Ganzen so wenig wie in unendlich vielen Einzelheiten vergessen werden. Es ist auch deswegen nicht 'aufzuarbeiten', weil es die menschliche Fassungskraft übersteigt."

Zugleich ist die Erinnerung an die Untaten der letzte Tribut, den wir den Opfern und ihren Hinterbliebenen zollen können.

Die von Christian Meier konstatierte Unabweisbarkeit der Erinnerung an Auschwitz verweist auf die Singularität der dort verübten Verbrechen. Die Geschichte dieser Erinnerung ist inzwischen Teil der deutschen Identitätsgeschichte. Deshalb konnte auch das 2005 eröffnete Holocaust-Denkmal nur in unmittelbarer Nachbarschaft des Berliner Regierungsviertels seinen Platz finden.

Christian Meier beschließt seinen luziden Essay mit einem Blick auf die Arbeit der Wahrheitskommissionen in Südafrika und mit Überlegungen zur deutsch-deutschen Wiedervereinigung. Der Autor kommt am Ende seiner Untersuchung zu einem offenen Ergebnis:

"Es ist und bleibt eine höchst schwierige Frage der Güterabwägung, wie man nach Kriegen, Bürgerkriegen, Revolutionen und Umstürzen mit der schlimmen Vergangenheit umgehen soll. Es gibt keinen abstrakten Maßstab dafür. Jeder Fall ist anders. Daher ist es keineswegs ausgemacht, dass sich seit der unabweisbaren deutschen Erinnerung an Auschwitz alles anders verhält als früher. Die uralte Erfahrung, wonach man nach solchen Ereignissen besser vergisst und verdrängt als tätige Erinnerung walten zu lassen, ist noch keineswegs überholt. Und es ist keineswegs ausgemacht, dass tätige Erinnerung Wiederholung ausschließt."

Angewandt auf den konkreten Fall des Nationalsozialismus bedeutet dies: Die Erinnerung allein genügt noch nicht. Sie muss einhergehen mit einem aktiven Eintreten für die unter schwierigen Umständen errungene demokratische Ordnung. Die Freiheit muss gegen ihre Feinde stets aufs Neue verteidigt werden.

Christian Meier: Das Gebot zu Vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns
Siedler Verlag, München 2010
100 Seiten, 14,95 Euro
Cover von Christian Meier: "Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns"
Cover Christian Meier: "Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns"© Siedler Verlag
Mehr zum Thema