Wie hältst Du’s, Islam, mit der Philosophie?

Rezensiert von Michael Böhm · 11.08.2013
Es mangelte im Mittelalter nicht an philosophischem Denken im Islam, viele Schriften wurden auch im Westen studiert. Doch es gibt einen Grund, weshalb sich der Orient und der Westen so unterschiedlich entwickelten und die Modernität im Westen entstand. Diese Entwicklung zeichnen die Autoren nach, manchmal allerdings ein wenig zu sachlich.
Es ist eine Gretchenfrage unserer Epoche, in der - je nach Standpunkt - Kulturen einander befruchten oder gegeneinander kämpfen, nämlich die Frage: "Wie hältst Du’s, Islam, mit der Philosophie?"

Eine Antwort darauf führt mitten in die Debatte hinein, ob der Islam vereinbar sei mit der modernen, westlichen Zivilisation. Für diese, so weiß man, legten der Rationalismus von Griechentum, Christentum und Aufklärung die Fundamente; und dadurch, so heißt es, habe schon seit der Antike im Abendland die Tendenz bestanden, die Welt gemäß der Vernunft philosophisch zu deuten.

Die Glaubenswächter grenzten die Philosophie aus
Das sei genauso wie im Islam, meinen die Einen, da diese Religion ebenfalls das Erbe der Antike angetreten habe und philosophische Vernunft beanspruche, so dass sie sich mit Rechtsstaatlichkeit und Demokratie vereinbaren lasse.

Das sei anderes als im Islam, sagen die Anderen, da dort orthodoxe Glaubenswächter die Philosophie aus Machtgründen ausgegrenzt und damit Rationalität verworfen hätten. Die Folge zeige sich an der Rückständigkeit der islamisch geprägten Welt.

"Wie hältst Du’s, Islam, mit der Philosophie?" – dieser Frage geht unter anderem auch das Handbuch "Islamische Philosophie im Mittelalter" nach. Wobei der Titel weniger eine arabisch-nordafrikanische, als eine europäische Epoche bezeichnet – eine Epoche, in der die Reflexionen islamischer Philosophen in Europa auf ein großes, später nie wieder erreichtes Interesse stießen.

Cordoba kam dabei eine Schlüsselrolle zu. Es war das geistige Zentrum von Al Andalus, jener sagenhaften Provinz im heutigen Spanien, wo nordafrikanische Dynastien herrschten. Es wurde im 11. Jahrhundert in der Reconquista durch die Christen zurückerobert. Gelehrte wie Gerhard von Cremona oder Dominicus Gundisalvi führten danach den intellektuellen Diskurs zwischen Orient und Okzident fort.

Sie übersetzten die philosophischen Texte aus dem Arabischen: Etwa die Schriften von Ibn-Sina, im Westen Avicenna genannt. Der persische Arzt und Soldat betrachtete Gott als reinen Intellekt, aus dem alle Existenzen hervorgehen und eine hierarchische Kette von Ursache und Wirkung bilden würden; er schuf mit dieser Deutung die Grundlage einer Metaphysik, die von Aristoteles ausgeht, aber auch über ihn hinaus.

Cover: "Islamische Philosophie im Mittelalter" (Lesart)
Cover: "Islamische Philosophie im Mittelalter"© Promo
Islamische Philosophen prägten das westliche Denken
Genauso lagen Werke von Ibn Rushd – bei uns als Averroes bekannt – seit dem 13. Jahrhundert in lateinischer Übersetzung vor. Der Jurist aus Cordoba meinte, es gebe nur einen einzigen Intellekt für alle Menschen. Dies schien individuelle Bestrafung und Belohnung im Jenseits auszuschließen, was im Widerspruch zu islamischen und christlichen Dogmen stand.

Doch war die These im Mittelalter geläufig, brach intellektuellen Streit vom Zaun und spaltete die Gelehrtenschaft in Averroisten und ihre Gegner. Noch in der Renaissance berief man sich auf Averroes.

Überhaupt gehörten Werke islamischer Philosophen bis zum 15. Jahrhundert zum universitären Kanon und prägten das westliche Denken. Der Liber de Causis, eine im 9. Jahrhundert in Bagdad anonym verfasste Schrift, war eines der einflussreichsten philosophischen Bücher in Europa. Es wurde lange Zeit Aristoteles zugeschrieben und inspirierte Thomas von Aquin sowie Albertus Magnus zu Kommentaren.

Dieser einstige fruchtbare Austausch ist den Autoren des Handbuchs ein weiteres Argument, …

"… um die "Behauptung einer scharfen geistigen Kluft zwischen europäisch-abendländischer und arabisch-islamischer Kultur in Frage zu stellen".

Gewiss gründete sich die islamische Kultur im siebten Jahrhundert auf der Hinterlassenschaft der Griechen im Vorderen Orient: auf deren Unterrichts-, Verwaltungs- und Steuerwesen; und gewiss dürfte in dem Satz etwas Wahres stecken, dass es ohne Alexander den Großen keine islamische Zivilisation gebe.

Die Intellektuellen erlebten oft Entfremdung
Aber genauso gab es unüberbrückbare Spannungen zwischen hadith und falsafa – zwischen der traditionellen Theologie, in der die Rechtsvorschriften des Koran unumstößliche Gebote waren, und der islamischen Philosophie, die an das griechische Erbe anschloss.

Doch darauf gehen die Autoren zu wenig ein. Nahezu kommentarlos beschreiben sie das widersprüchliche Denken des Ibn Khaldun aus Tunis, jenes Historikers und Politikers aus dem 14. Jahrhundert.

In durchaus aristotelischer Tradition sah er Logik und Vernunft als Methoden an, die Wirklichkeit wahrzunehmen und zu bewerten; doch wo rationale Erkenntnis dem göttlichen Gesetz widerspreche, meinte er, habe sie sich ihm zu beugen, andernfalls könne sie Schaden anrichten. Gottes Recht erschienen ihm universeller und verlässlicher, als das weltliche der Duodezfürsten Nordafrikas.

Auch rühren sie nicht am Mythos von Al Andalus, wo Muslime, Juden und Christen tolerant und friedlich miteinander gelebt hätten und es unter der Herrschaft der Almohaden zu einer "philosophischen Blüte" gekommen sei.

"Der Philosoph konnte sich nur auf die Gunst des jeweiligen Mäzens verlassen, dem er diente, eine Gunst die prekär blieb und auf jeden Fall den Herrschenden nicht überlebte."

Denker wie Ibn Tufayl oder Averroes dienten als Vertreter einer gut ausgebildeten Elite an islamischen Höfen. Entzog ihnen aber der Herrscher die Gunst, starb er oder wurde gestürzt, war ihnen die Existenzgrundlage entzogen. Häufig wanderten sie weiter zu einem anderen Mäzen der Region. Und es wird eben nicht erwähnt, dass diese Intellektuellen oft Entfremdung, Frustration und Einsamkeit kannten.

Dass die Liste der verfolgten oder gar umgebrachten Philosophen im islamischen Raum lang ist, verschweigen die Autoren hingegen nicht. Natürlich, auch im christlichen Europa waren Geisteswissenschaftler ihrer Stellung und ihres Lebens nicht sicher. Und doch sicherten Universitäten der Philosophie einen "Platz in der Gesellschaft", schufen somit ein Klima, in dem das freie, eigenständige Denken gedieh – und aus dem die westliche Modernität resultiert.

Die Universität entstand im Westen
Anders als im christlichen Europa war das Philosophieren in der islamischen Welt eine private Sache der Gelehrten, die sie auf eigenes Risiko betrieben.

Es drängt sich die Frage auf, warum jedoch eine Institution wie die Universität nicht in der islamisch-arabischen Kultur entstand. Doch beantwortet wird sie von diesem Handbuch über die islamische Philosophie nicht. Vielleicht müsste dazu ein weiteres über die islamische Zivilisation geschrieben werden. Denn es mangelte nicht an philosophischem Denken im Islam, wohl aber an einer existenzsichernden Wissenschaftsorganisation.

Heidrun Eichner, Matthias Perkams, Christian Schäfer (Hrsg.): Islamische Philosophie im Mittelalter
WBG Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt April 2013
400 Seiten, 79,90 Euro
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