Werner Herzog: "Die Zukunft der Wahrheit"

Auf Abwege geraten

05:52 Minuten
Buchcover: "Die Zukunft der Wahrheit" von Werner Herzog
© Hanser Verlag
"Die Zukunft der Wahrheit" von Werner HerzogHanser Verlag, Berlin 2024

112 Seiten

22,00 Euro

Von Samuel Hamen · 18.02.2024
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In seinem Essay folgt der bekannte Regisseur den Spuren der Wahrheit quer durch alle Themenfelder, Epochen und Kunstsparten. Aber es fehlt die Gestalt, um diesem weitläufigen Thema Form und Richtung zu geben.
Auf dem Cover von Werner Herzogs neuem Essay ist ein einzelner Pinguin zu sehen, der einem schneeverwehten Gebirge entgegenwandert. Das Bild stammt aus Herzogs Film "Begegnungen am Ende der Welt" von 2007 und ist einer Szene entnommen, die wegen des desorientierten Tieres, Herzogs bayrisch imprägniertem Englisch und dem spirituellen Chorgesang im Hintergrund Kultstatus besitzt.

Inhaltlich hat es wenig Bezug zum Thema das Essays, in dem der bekannte deutsche Filmemacher nach dem Wesen der Wahrheit fragt: „Die Frage nach ihr hat mich mein gesamtes Arbeitsleben beschäftigt. Gibt es so etwas wie eine Wahrheit im Film? In der Poesie, der Kunst?“

Sprunghafte Erzählweise

Auf diesen Seiten ist ein Autor durch eine enorme Landschaft des Wissens unterwegs, umgeben von biografischen Anekdoten, seiner eigenen Filmografie, kulturellen Referenzen und einem Allerlei an Informationen. Alles glänzt, kaum etwas ist klar zu erkennen.

So wie der Pinguin in „Begegnungen am Ende der Welt“ seine Route stur verfolgt, so geht auch Herzog selbst in „Die Zukunft der Wahrheit“ unbeirrbar seinen Weg. Auf gewisse Weise watschelt sein Text gleichfalls vor sich hin, um das Terrain von Wahrheit und Lüge zu erkunden, seine Absätze lose miteinander verbunden durch „zurück zur Schenkung Konstantins“, „nochmals zum Mars“ oder „zu Elon Musk auch noch dies“.

Mal geht es um Lady Diana, dann um Photoshop, um Romulus und die Gründung Roms, viel um KI, kurz um ein Schwein, das in einen viereckigen Schacht auf dem Markt von Palermo stürzt, schließlich um Ramses II., gefolgt von einer fünfseitigen Inhaltsangabe einer Verdi-Oper von 1862. Auf einer einzigen Seite defilieren kurz darauf André Gide, Shakespeare, Michelangelo, Caspar David Friedrich, Jesus und Bernhard von Clairvaux vorbei. 

Begriffe wie Wahrheit, Illusion, Narrativ, Lüge, Wirklichkeit und Fakten sind wie Puderzucker drübergestreut: „Wahrheit scheint mir eher als eine immerwährende Bemühung, sich ihr anzunähern. Als Bewegung auf sie zu, als ungewisse Reise, als Suche voll Mühe und Vergeblichkeit.“

Über die Nachtseite der Wahrheit

Immer mal wieder glimmt Interessantes auf. Wie gehen Hypersubjektivität und objektive Wahrheitsansprüche zusammen? Inwiefern läutet das Diktat des Gefühls das Ende der Fakten ein? Ist Fake News nur ein Kampfbegriff von rechts? Was zählt das Bild in Zeiten seiner totalen Manipulierbarkeit? Besteht das Geschenk der Fiktion in Film und Literatur darin, dass in ihr die Lüge legitim, schön und tröstlich wird? Wollen wir politisch und emotional auf möglichst raffinierte Weise belogen werden?

Nichts davon wird verfolgt. Das hat Programm; noch auf der vorletzten Seite schreibt Herzog: „Die Welt, die Wirklichkeit, Wahrheit, was ist das? Ich stelle die Frage nochmals. Ich kann sie nicht beantworten.“ Er ist ein irrlichternder Enzyklopädist, ein Umherschweifender, dem man zugutehalten muss, dass ihn die Neugierde und die Lust zu staunen antreiben.

Keine Zeit, um in die Tiefe zu gehen

Bestreitet hier ein Wahrheitsmystiker einen Sonderweg der Erkenntnis, auf den man sich nur lange genug einlassen muss? Oder geht ein Schwadroneur in der Ideengeschichte unter, befangen in der Tragik derjenigen, die aufgrund ihrer Verehrung und Stellung keinen (verlegerischen) Widerspruch mehr erhalten? Die Antwort hängt wohl davon ab, wie viele Sympathien man der Medien- und Meme-Figur Werner Herzog entgegenbringt. „Ich stelle die Frage“, schreibt dieser an einer Stelle, „wollte Michelangelo uns betrügen, wollte er uns Fake News vorsetzen?“ Wieder mal stellen sich viele Gegenfragen. Aber es bleibt keine Zeit. Schon geht’s weiter, schon rieseln die Begriffe, schon geht es um ChatGPT, „Fitzcarraldo“ und Sherlock Holmes.




 
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