Werkstätten für Menschen mit Behinderung

Ausbeutung oder Sprungbrett?

07:37 Minuten
Markus Aurich (l), Auszubildender, prüft unter Anleitung von Marcel Woitynek, Gruppenleiter, eine Ofentür nach deren Bearbeitung in einer CNC-Fräse in einer Behindertenwerkstatt. Mit einem bundesweit einmaligen Qualifizierungsprojekt will Sachsen neue Wege bei der Inklusion gehen. Ãber einen Zeitraum von zwei Jahren können Menschen mit Handicap mithilfe von 93 sogenannten Praxisbausteinen einen anerkannten Berufsabschluss machen. Die Partner-Werkstätten Chemnitz gehört zu den sachsenweit mehr als 30 Werkstätten, die sich bereits an dem Projekt beteiligen.
Werkstätten für Menschen mit Behinderung galten einst als Errungenschaft. Heute stehen sie auch oft in der Kritik. © picture alliance / Jan Woitas
Von Jelena Berner · 15.11.2022
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Der Hashtag #ihrbeutetunsaus hat Schlagzeilen gemacht. Viele halten das System der Werkstätten für Menschen mit Behinderung für überholt. Selten schafften es Menschen aus der Rehamaßnahme in den ersten Arbeitsmarkt, so die Kritik.
Katrin Langensiepen ist Grünen-Abgeordnete im EU-Parlament und scharfe Kritikerin der Werkstätten für Menschen mit Behinderung – kurz WfbM:
"Es ist das bestausgeweitete Billiglohn-Modell EU-weit. Nirgendwo in der EU kann ein Unternehmen so billig produzieren lassen wie in einer WfbM. Ich erinnere gern: Die Menschen haben keinen Arbeitnehmer*innen-Status. Sie haben kein Streikrecht, keinen Mindestlohn, sie haben keine Arbeitnehmer*innen-Rechte. Es ist das System, welches ich kritisiere. Das kriegt man nicht gelöst, indem wir sagen: Wir geben euch jetzt den Mindestlohn. Das ist zu kurz gesprochen."
Die Werkstätten gelten laut Sozialgesetzbuch als Einrichtungen zur Rehabilitation, die Beschäftigten als Teilnehmer einer Rehamaßnahme, weshalb sie nicht regulär bezahlt werden müssen.
Sie erhalten ein sogenanntes „Werkstatt-Entgelt“ für die Arbeit, die sie leisten – meist einfache Auftragsarbeiten für Firmen, zum Beispiel Einzelteil-Montagen.
Die EU-Parlamentarierin Katrin Langensiepen hat selbst eine körperliche Behinderung. Als junge Frau sollte sie in einer Werkstatt arbeiten, weil man ihr nicht zutraute, Journalistin zu werden. Doch sie weigerte sich: machte ihr Abitur, eine Fremdsprachenausbildung, war einige Jahre arbeitslos, bis sie erfolgreich für einen Sitz im EU-Parlament kandidierte.
Seit 2019 vertritt sie dort nun Bremen und Niedersachsen und ist überzeugt: Die Werkstätten wären für sie kein Sprungbrett in den ersten Arbeitsmarkt gewesen. Ihrer Meinung nach sollten sie abgeschafft werden.

Werkstätten als Abstellgleis?

In den Mosaik Werkstätten Berlin arbeiten 1500 Menschen mit Behinderung – in Wäschereien, Nähstube, Logistik. Die Stimmung ist gut an diesem Novembermorgen. Eine Mitarbeiterin erklärt, wie sie Buntstifte in Pappschachteln sortiert. Ihre Kollegin erledigt an der Mangelmaschine in der Wäscherei Aufträge für Hotels und Gastronomie. Dennis Kuck führt durch die Räume. Er arbeitet bei Mosaik als Bereichsleiter für Arbeit und Produktion und verantwortet in den Werkstätten alle Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen.
Eine Person mit Mikrofon in der Hand spricht mit einer anderen Person, die in einer Werkstatt an einer Maschine steht.
Journalistin Jelena Berner (l.) während ihrer Recherchen bei den Mosaik Werkstätten in Berlin. © Mosaik
"Was immer ganz wichtig ist, und was jeder wissen sollte: Die Arbeit, die sonst ein Facharbeiter irgendwie sonst macht, in einem normalen tariflichen Umfeld oder so, die wird hier teilweise von zwölf oder mehr Menschen gemacht. Das liegt daran, dass die Menschen natürlich in einem anderen Umfeld arbeiten. Die haben natürlich nicht den Zeitdruck und auch nicht die Geschwindigkeit, teilweise auch nicht so viel Geschick und brauchen Assistenz bei der Ausführung der Tätigkeiten. Und deswegen dauert es einfach alles ein bisschen länger, und wir haben mehr Pausen."
Die Werkstätten sollen im Sinne einer Reha-Maßnahme für den ersten Arbeitsmarkt qualifizieren, den Beschäftigten etwa dabei helfen, Lese-, Schreib- und Rechenfähigkeiten zu verbessern. 

Niedrige Bezahlung per Werkstatt-Entgelt

Rund 200 Euro verdienen die Beschäftigten monatlich. Dazu kommen meist weitere Leistungen wie Grundsicherung, Erwerbsminderungsrente und Wohngeld – am Ende bleibt den Betroffenen jedoch nur wenig. Die Kritik an der Bezahlung kann Dennis Kuck deshalb nachvollziehen und setzt sich mit den Mosaik Werkstätten für den gesetzlichen Mindestlohn ein.
Die Bundesregierung hat eine Studie in Auftrag gegeben. Sie soll prüfen, ob es möglich ist, in Werkstätten den Mindestlohn einzuführen, und welche Auswirkungen die Einführung hätte.
Die Expertinnen und Experten prüfen darüber hinaus noch zwei weitere Vorschläge, wie das Werkstattentgelt reformiert werden könnte. Aber die EU-Parlamentarierin Katrin Langensiepen und andere Kritiker werfen den Werkstätten neben der schlechten Bezahlung auch vor, sich abzuschotten. Aktuell findet nur etwa ein ein Prozent der Beschäftigten in die freie Wirtschaft oder den öffentlichen Dienst, obwohl es zu den Hauptaufgaben der Werkstätten gehört, die Mitarbeitenden fit für den ersten Arbeitsmarkt zu machen.

Begrenzte Teilhabe

Gudrun Wansing ist Professorin am Institut für Rehabilitationswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und forscht zu beruflicher Teilhabe und Inklusion.
"Deutschland hat auch im europäischen oder internationalen Vergleich eine sehr starke Tradition der Separation, das heißt der besonderen Einrichtungen für Menschen mit Behinderung. Das sehen wir genauso, auch im Förderschulenbereich und im Wohnbereich. Aber in allen Feldern sehen wir jetzt, dass sozusagen dieses sehr ausdifferenzierte System unerwünschte Nebenwirkungen entfaltet, nämlich unerwünschte Nebenwirkungen im Hinblick auf Einschränkungen der Teilhabe, der Inklusion und der Selbstbestimmung."
Die Werkstätten abzuschaffen sei aber keine Lösung, findet Gudrun Wansing. Die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung seien sehr verschieden. Viele setzten sich auch explizit für die Werkstätten ein.
"Wenn man das historisch betrachtet, kann man sagen, dass die Werkstätten tatsächlich eine Errungenschaft darstellen. Wir hatten ja sehr lange Zeit überhaupt keine Möglichkeit für den Personenkreis, der heute in der Werkstatt arbeitet, eine Tagesstruktur zu haben, berufliche Bildung zu erlangen oder Beschäftigung. Und das heißt, viele haben schlicht zu Hause gesessen."

Kritik am Werkstättensystem

Ein veraltetes Konstrukt? Die Vereinten Nationen kritisieren das Werkstättensystem und fordern die Auflösung der Betriebe. 2009 hat Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Sie besagt: Auf Grundlage der Gleichberechtigung haben Menschen mit Behinderung das Recht, den Lebensunterhalt durch frei gewählte oder frei angenommene Arbeit zu verdienen. Das deutsche Werkstättensystem stehe dazu in einem klaren Widerspruch.
Noch ist ein Ende dieses Systems nicht in Sicht. Die laufende Studie zum Mindestlohn in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen soll in rund einem Jahr Ergebnisse liefern. Unabhängig davon ist Inklusionsforscherin Gudrun Wansing überzeugt: Inklusion ist mehr als gerechte Bezahlung in den Werkstätten.
Menschen mit Behinderung müssten überall in der Gesellschaft einen selbstverständlichen Platz haben: in Schulen, in Unternehmen auf dem ersten Arbeitsmarkt, in der gesamten Gesellschaft. Das Problem und die Lösung allein bei den Werkstätten zu suchen, greife zu kurz.

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