Wenn das Böse erwacht

31.05.2012
Amélie Nothomb, bald 45 Jahre alt und eine besessene Schreiberin, erzählt uns die Geschichte eines Wahns. Und sie erzählt vom Verhängnis der Konsequenz. Und immer auch von sich selbst.
Der vierzehnjährige Joe Whip - der vaterlos aufwächst, nicht einmal die Mutter weiß, wer von ihren vielen Männern Joes Erzeuger war - ist ein Kartenspielergenie mit "begnadeten Händen". Der zwanzig Jahre ältere Norman Terence, ein berühmter Magier, nimmt ihn unter seine Fittiche, er wird sein Trainer und sein Ersatzvater. Norman ist ein moralisch und ethisch einwandfreier Mensch, die Magie ist für ihn eine hohe Kunst. Joe hingegen will den Erfolg um jeden Preis. Und er will nicht nur den Erfolg im Spiel, sondern auch in der Liebe.

Objekt seiner Begierde ist ausgerechnet Normans Frau Christina, die Feuertänzerin. Für sie hebt Joe sich auf, er wartet drei Jahre, bis es auf einem drogenseligen Freak-Festival in der Wüste von Nevada endlich zur Vereinigung mit der Angebeteten kommen soll. – Die unerwartete Pointe soll an dieser Stelle nicht verraten werden, nur so viel: Das Ende ist überraschend, für die einen traurig, für die andern nur folgerichtig.
Die Belgierin Amélie Nothomb, 1967 im japanischen Kobe geboren - der Vater war Diplomat -, beschert uns jedes Jahr ein neues Buch. Trotzdem wirken ihre Sujets nie ausgelutscht. Dafür sind sie zu abwechslungsreich. Aber sie sind nicht beliebig. Nothomb hat ein Thema, fast eine Manie – nämlich die Manie selbst. Alle ihre Figuren sind irgendwie besessen. Joe ist vom Betrug besessen, Norman von der Magie. Und beide sind voneinander besessen. Genauso besessen vermutlich wie die Autorin selbst. Dadurch erscheinen ihre Bücher sehr authentisch.

Ein weiterer Grund für ihren Erfolg ist die grundsätzliche Überschaubarkeit der Geschichten. Man hat den Eindruck, man könnte praktisch eine beliebige Seite aufschlagen und wüsste sofort, um wen und was es geht. Die Anzahl der Personen hält sich in Grenzen, die Beziehungen zwischen ihnen sind relativ eindeutig, ohne simpel zu sein. Die Geschichten sind durchtrieben, dafür benutzt die Kritik gern die Vokabel "maliziös". Dabei ist sie kein weiblicher Mephistopheles, sie will die Leute nicht zum Bösen verführen, sondern höchstens das in uns schlummernde Böse zeigen. Ihre Texte sind psychologisch versiert. Vor allem sind sie nicht zu lang. Als wollte sie die Forderung des englischen Schriftstellers B.S. Johnson erfüllen, der zeitgenössische Roman solle "komisch, brutal und kurz" sein.

Und immer erzählt Amélie Nothomb von sich selbst. Wenn Norman seinem Schüler einschärft, das Publikum nicht zu betrügen, sondern zu verzaubern, denn die Magie wolle im Gegenüber "einen befreienden Zweifel wachrufen"; wenn die Kunst des Feuertanzes als "beständiger Wechsel zwischen Wahnwitz und Vernunft, Begehren und Erfüllung" definiert wird; wenn sie über die Einsamkeit des Genies spricht – dann ist das mit einer derartigen Leidenschaft und Überzeugung vorgetragen, dass man nicht umhin kann, darin die Autorin selbst zu sehen. Mit jedem Buch lernen wir sie besser kennen.

Besprochen von Peter Urban-Halle

Amélie Nothomb: Den Vater töten
Aus dem Französischen von Brigitte Große
Diogenes Verlag, Zürich 2012
121 Seiten, 18,90 Euro

Links bei dradio.de:

Sehnsucht nach dem Absoluten
Amélie Nothomb: "Biographie des Hungers", Diogenes Verlag, Zürich 2009, 207 Seiten

Bissige Version von "Die Schöne und das Biest"
Amélie Nothombs Roman "Attentat"

Literatur als Lebensart - Die belgische Schriftstellerin Amélie Nothomb
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