Sehnsucht nach dem Absoluten

25.05.2009
Mit "Biographie des Hungers" legt Amélie Nothomb einen autobiographischen Roman ihrer Kindheits- und Jugendjahre in Kobe, Peking, New York, Dacca (Bangladesch) und anderen Orten vor. Sie stopft alles in sich hinein: Essen, Alkohol, Wasser, aber auch Bücher, Eindrücke, Erfahrungen, das Leben mit all seinen Extravaganzen.
Die Belgierin Amélie Nothomb, geboren 1967 im japanischen Kobe, ist eine egozentrische, manische Autorin, sie kennt kein Maß, auch in den Büchern selbst nicht. Es war deshalb wohl nur eine Frage der Zeit, wann sie eine "Biographie des Hungers" schreiben würde. Diese ist eine Art Fortsetzung ihres autobiographischen Romans "Metaphysik der Röhren" (2002) über ihre ersten drei Lebensjahre, die sie in Japan zubrachte. Der Genetiv im Titel des neuen Buchs ist übrigens ein "subjectivus", hier schreibt der Hunger selbst:

"Ich bin der Hunger. Es geht mir hier nicht um ein Monopol. Ich behaupte nur, eine Meisterin auf diesem Gebiet zu sein. So weit mein Gedächtnis reicht, bin ich immer fast vor Hunger gestorben."

Ihr Hunger erstreckt sich nicht nur auf das Essen, besonders Süßes (dafür war ihre Großmutter zuständig, die ihr einst belgische Schokolade mitbrachte), man muss ihn vor allem metaphorisch verstehen: Sie hat Hunger auf das Schreiben, das Lesen, die Liebe, auf das Leben und seine Vergnügungen und Leiden allgemein. Der Durst gehört dazu. Sie säuft wie ein Loch. Mit vier entdeckt sie die zauberhaften Wirkungen des Alkohols. Ihr Vater ist Diplomat ("Meine Eltern hatten das Mondäne zum Beruf"), er gibt Empfänge ohne Ende, und sie leert die Reste in den Champagnergläsern der Gäste. Zum Glück für ihre Leber beschränkt sich ihr Durst nicht auf den Alkohol, sie schüttet auch Wasser in rauen Mengen in sich hinein. Durch das Wasser will sie die "trockenen Landstriche" in sich zum Blühen bringen.

Nothombs Bücher haben immer eine fast irrwitzige Sehnsucht nach dem Absoluten. Nie sind sie beliebig oder gleichgültig. Sie sind, wie gesagt, egozentrisch und narzisstisch. Aber jeder Narziss – nehmen Sie Oscar Wilde – hat auch Charme und Witz. Und bei allem Narzissmus kann die Nothomb auch "starr vor Freude" sein, sie weiß die Extravaganzen der andern zu würdigen und deren Genie zu verehren. Das zeugt von Größe.

Erst im letzten Viertel merken wir, dass dieses Buch, so amüsant und zum Schreien komisch es sich anließ, von Anfang an tragisch war, die übergroße Selbstliebe schlägt mit der Pubertät beinah zwangsläufig in Selbsthass um. Vorher stopfte sie alles in sich hinein, jetzt weigert sie sich standhaft, überhaupt noch etwas zu sich zu nehmen. Das Einzige, was sie jetzt noch konsumiert, sind die Bücher, sie ist eine fanatische Leserin.

"Lesen war – neben dem Alkohol – das Wichtigste in meinem Leben."

In ihrer "Roman" genannten Autobiographie setzt sich Amélie Nothomb über die Wirklichkeit hinweg, um der Wahrheit näherzukommen. Sie arbeitet mit Hyperbeln, mit Übertreibungen, und wie keine zweite schafft sie es, Gegensätze, oft in einem Satz, zu vereinen: Sie ist leicht und schwierig, amüsant und traurig, tiefsinnig und scheinbar unbeschwert, ihr Schreiben wird von einer quecksilbrigen, wie aufgeputschten Intelligenz vorangetrieben.

Ihre beiden Übersetzer Wolfgang Krege und – im vorliegenden Fall – Brigitte Große stehen einander in nichts nach, sie sind einfallsreich, pointiert, durchaus effektvoll, wie geschaffen für eine solche Autorin.

Besprochen von Peter Urban-Halle

Amélie Nothomb: Biographie des Hungers. Roman
Aus dem Französischen von Brigitte Große
Diogenes Verlag, Zürich 2009
207 Seiten, 18,90 Euro