Weltkriegsende 1945

Der Massenselbstmord von Demmin

Eine Tafel an einem Gedenkstein auf dem Friedhof in Demmin (Mecklenburg-Vorpommern) erinnert an den Massenselbstmord 1945, aufgenommen am 08.04.2013. In Demmin kam es Historikern zufolge zum Kriegsende zu einem der schlimmsten Fälle von Massenselbstmord.
Eine Tafel an einem Gedenkstein auf dem Friedhof in Demmin erinnert an den Massenselbstmord zum Kriegsende im Jahr 1945. © picture-alliance / dpa / Bernd Wüstneck
Von Wolfgang Schneider · 26.02.2015
Vergiftet, erhängt, erschossen: In der Stadt Demmin nördlich von Berlin nahmen sich im Jahr 1945 etwa 1000 Menschen das Leben. In "Kind, versprich mir, dass du dich erschießt" beschreibt Florian Huber Panik und Verzweiflung am Ende des Zweiten Weltkrieges.
In einer Provinzstadt nördlich von Berlin hat sich einer der "größten Massenselbstmorde der Geschichte" zugetragen. Demmin heißt der Ort. Von etwa 15.000 Menschen haben sich hier im Inferno des Kriegsendes etwa 1000 umgebracht. Im ersten Teil seines Buches beschreibt der Historiker und Dokumentarfilmer Florian Huber die Geschehnisse in Form einer Reportage, auf der Grundlage von Tagebüchern, Erinnerungen und Gesprächen mit Zeitzeugen: Geschichte nicht aus kritischer Distanz herabdoziert, sondern dicht und beklemmend aus der Erlebnisperspektive geschildert.
Massenvergewaltigung und Brandschatzung
In den letzten Kriegstagen war eine halbwegs geordnete Flucht nicht mehr möglich. Die Bevölkerung und die in Demmin gestrandeten Flüchtlinge aus dem Osten wurden mit Durchhalteparolen beschwichtigt. Die Wehrmacht setzte sich ab und sprengte hinter sich die Brücken über die von mehreren Flüssen umgebene Stadt. Deshalb kam kurz darauf der Vormarsch der Roten Armee in Demmin zum Stehen, immer mehr Truppen stauten sich in der Stadt. Es war die Nacht auf den 1. Mai, und der vorgezogene Siegesrausch der russischen Soldaten mündete in Exzessen der Massenvergewaltigung und Brandschatzung, grausame Rache für die Verbrechen, die deutsche Soldaten und Einsatzgruppen begangen hatten.
In Panik und Verzweiflung vergifteten, erhängten, erschossen sich Hunderte Menschen in der brennenden Stadt. Reihenweise zogen die vergewaltigten Frauen in die seichten Flüsse und Moorgräben, um sich und oft auch ihre Kinder zu ertränken. Es sind schauerliche Schicksale und bisweilen geradezu surreale Szenen, die Huber darstellt. Und Demmin war kein Einzelfall. In vielen Städten und Dörfern gab es ähnliche Selbstmordwellen. In Berlin sind für das Jahr 1945 7000 Selbsttötungen registriert, fast 4000 davon im April.
Fast offizielle Selbstmordempfehlung
Die Motive waren vielfältig. Die von der Propaganda geschürte, aber durchaus berechtigte Angst vor den Sowjetsoldaten war nur das offensichtlichste. Dass Repräsentanten des Regimes sich umbrachten, um der Verantwortung zu entgehen, erscheint ebenfalls einleuchtend. Die Götterdämmerungsstimmung wirkte allerdings ansteckend, verstärkt durch den Todeskult im Nationalsozialismus, der nur die pathetische Alternative von Sieg oder Untergang gelten lassen wollte und den Selbstmord am Ende fast offiziell empfahl.
Interessant ist Hubers Buch auch deshalb, weil es die Selbstmordwelle als Antrieb für eine eindringliche Mentalitätsstudie über die Menschen im "Dritten Reich" nimmt. Wie war es möglich, dass die Mehrheit der Deutschen ihre Hoffnungen mit dem Hitler-Regime verband und die Jahre 1933 bis 1940 als euphorisierende Epoche des Aufschwungs und des dauernden Ausnahmezustands, als "Ära des Glücks" empfand? Diese Frage zu beantworten ist heikel, Huber gelingt es aber in einer Weise, die nicht in die Gefahr einer Verharmlosung des Nationalsozialismus gerät. Die Fakten über das "Dritte Reich" sind oft dargelegt worden, es gibt aber nur wenige Bücher, die so überzeugend die Stimmungslagen jener Zeit einfangen.

Florian Huber: Kind, versprich mir, dass du dich erschießt. Der Untergang der kleinen Leute 1945
Berlin Verlag, Berlin 2015
304 Seiten, 22,99 Euro

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