Tragödie von Demmin

Die schwierige Aufarbeitung eines Massensuizids

Auf dem Friedhof von Demmin (Landkreis Mecklenburgische Seenplatte) steht ein Obelisk auf einem Gräberfeld mit rund 1.800 Opfern, die u.a. bei einem Massenselbstmord nach dem Einzug der Roten Armee 1945 starben.
Eine Vielzahl von Gründen führte in Demmin 1945 zu einer Selbstmordwelle – einer davon war die NS-Propaganda © picture alliance / dpa / Bernd Wüstneck
Lange wurde geschwiegen über das, was sich Anfang Mai 1945 in Demmin ereignet hat. Doch seit Neonazis versuchen, das Leid der Bevölkerung am Kriegsende zu instrumentalisieren, wächst auch die Gegenwehr. Wie funktioniert Gedenken ohne Opfernarrativ?
Das Kriegsende am 8. Mai 1945 hat für die deutsche Bevölkerung nicht nur Befreiung, sondern auch großes Leid bedeutet. In den letzten Kriegstagen haben überall in Deutschland Menschen ihre Kinder und sich selbst getötet. Doch in keinem anderen Ort ist es zu einer derartigen Massenselbsttötung gekommen wie in der vorpommerschen Kleinstadt Demmin. Historiker schätzen, dass in den ersten Maitagen 1945 etwa 1000 Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt Suizid begangen haben – vor allem Frauen, die zuvor Kinder umgebracht haben.
Nach Jahrzehnten des Schweigens rückt dieses tragische Vorkommnis wieder stärker ins Licht der Öffentlichkeit – es gibt Bücher, Filme und Kunstwerke über den Massensuizid von Demmin. Dazu kommt, dass Rechtsextreme seit Jahren versuchen, das Gedenken an die Tragödie mit ihren Ideologien zu besetzen. Gegen die Vereinnahmung von Rechtsaußen regt sich zunehmend Protest.

Was geschah 1945 in Demmin?

Zwischen Ende April und Anfang Mai 1945 nahm die Rote Armee die Kleinstadt Demmin ein, nachdem sich die Wehrmacht zurückgezogen hatte. In diesen Tagen nahmen sich bis zu 1000 der damals rund 15.000 Einwohnerinnen und Einwohner das Leben. Viele ertränkten sich in den umliegenden Flüssen, nahmen Gift, erhängten sich oder schnitten sich die Pulsadern auf. Oft handelte es sich um erweiterte Selbstmorde, bei denen ein Familienmitglied etwa auch die eigenen Kinder tötete.
Die sogenannte weißrussische Front erreichte Ende April 1945 von Osten kommend die Stadt Demmin, die im Süden, Norden und Westen von den Flüssen Peene, Trebel und Tollensee umrandet ist. Die Brücken über die Flüsse hatte die Wehrmacht vor ihrem Rückzug in Richtung Westen gesprengt, erklärt der Historiker Florian Huber.
Der Fluss Peene in Mecklenburg-Vorpommern mit dem Speichergebäude aus Backstein im Hafen von Demmin.
Die Stadt Demmin ist im Norden, Süden und Westen von den Flüssen, Peene, Trebel und Tollense umsäumt© picture alliance / imageBROKER / Volker Lautenbach
Diese Gemengelage zwang die sowjetischen Soldaten, mehrere Tage in Demmin zu bleiben, bis Behelfsbrücken gebaut wurden. Gleichzeitig gab es für die als besonders regimetreu geltende Bevölkerung von Demmin keinen Fluchtweg.
Zwar habe es bei der Einnahme von Demmin keine größeren Kämpfe gegeben, sagt Huber. Einzelne Einwohner hätten aber auf die Soldaten geschossen. In dieser Situation eskaliert die Gewalt – es kommt zu unzähligen Plünderungen, Morden und Vergewaltigungen. „Das kann man sich nicht schrecklich genug vorstellen“, sagt Huber. Die Soldaten setzen die Stadt in Brand. Drei Tage lang steht die aus Fachwerkhäusern bestehende Innenstadt in Flammen.

Was waren die Gründe für den Massensuizid?

Die Gewaltexzesse seien einer der Gründe für die massenhaften Suizide, meint Huber. Doch es gab viele weitere. „Ich denke, dass die Menschen schon seit Wochen mit dem Tabu Selbstmord gebrochen hatten“, sagt Huber. „Man sprach sehr offen darüber.“ 
Dazu kamen die Erzählungen der vielen Flüchtlinge aus den Ostgebieten, die im Winter 1944/45 in Richtung Westen unterwegs waren. Sie wussten, was die Deutsche Wehrmacht in den Ländern Osteuropas angerichtet hatte und fürchteten Rache. Deutsche Soldaten hatten dort einen Vernichtungskrieg gegen die vom NS-Regime ausgerufenen „Untermenschen“ geführt. Nun kam der „totale Krieg“ zurück ins Land seiner Urheber.
Und auch die Nazi-Propaganda der letzten Kriegstage führte eine suizidale Stimmung herbei. So kursierten Horrorgeschichten, die die russischen Soldaten als monströse Kannibalen darstellten. Der Mythos von Ehre, Schuld und die Schmach der Kapitulation, die das NS-Regime propagiert hatte, trieb viele Menschen in den Selbstmord. Auch viele Mitglieder der NS-Führung begingen Suizid. Das Regime machte zudem in Zeitungen, Rundfunk und öffentlichen Verlautbarungen regelrecht Werbung für den Suizid der eigenen Bevölkerung. Es wäre zweifellos am besten, sagte etwa ein Sprecher des Propagandaministeriums, wenn die vorrückenden Feinde nur noch tote Deutsche vorfänden.
Diese Gemengelage führte in Demmin, aber auch in vielen anderen Orten, zu einer Art Massenhysterie. Der Historiker Huber spricht von einem Ansteckungssog, der sich in der Bevölkerung als Suizidwelle bahnbrach. Insgesamt haben sich in den letzten Kriegstagen wahrscheinlich mehrere Zehntausend Deutsche das Leben genommen.

Warum geriet der Massensuizid in Vergessenheit?

In der DDR wurden die Ereignisse in Demmin verschwiegen. Zeitzeugen berichten, dass das Sprechen darüber nach Kriegsende Stück für Stück unterdrückt wurde. Die Gräueltaten passten nicht ins propagierte Bild der Roten Armee als große Befreier. So gerieten die tragischen Vorfälle nach und nach in Vergessenheit. Wenn die Verwandtschaft schwieg, erfuhren jüngere Demminerinnen und Demminer nichts über den Massensuizid – auch im Geschichtsunterricht war er kein Thema.
Erst nach der Wende begann langsam die Aufarbeitung. Zunächst kursierten Spekulationen und Gerüchten, wie es zu der Selbstmordwelle Anfang Mai 1945 gekommen war. 2015 rückten die Ereignisse in Demmin schließlich mit der Veröffentlichung von Hubers Buch „Kind, versprich mir, dass du dich erschießt“ stärker ins öffentliche Licht.

Wie versuchen Rechtsextreme das Gedenken zu instrumentalisieren?

Das Schweigen über die Tragödie von Demmin und das fehlende Gedenken während der DDR-Zeit hat ein Vakuum entstehen lassen, das in der Folge von rechtsextremen Gruppen besetzt wurde. Die Amadeu-Antonio-Stiftung hat dokumentiert, dass die Partei „Die Heimat“, die frühere NPD, seit 2007 jedes Jahr am 8. Mai einen „Trauermarsch“ in Demmin anmeldet. Der Stiftung zufolge nehmen jährlich rund 200 Rechtsextreme an der Demonstration teil. Sie ziehen mit Fackeln und Fahnen durch die Stadt und lassen Kränze in die Peene.
Schwarz gekleidete Teilnehmende des NPD-Aufmarschs in Demmin im Jahr 2015 halten brennende Fackeln in den Händen.
Rechtsextreme versuchen auch in Demmin das Leid der Bevölkerung 1945 zu instrumentalisieren, um von den Verbrechen des Nationalsozialismus abzulenken© picture alliance / ZB / Bernd Wüstneck
Ähnlich wie andernorts steht hinter dem Gedenken der Rechtsextremen die Absicht, den Fokus weg von den Verbrechen des Nationalsozialismus und einseitig auf das Leid der deutschen Bevölkerung zu lenken. Damit werde versucht, einen deutschen Opfermythos zu etablieren, so die Amadeu-Antonio-Stiftung. Die Trauer gelte dabei aber nicht den Menschen, sondern dem Zusammenbruch des Hitlerregimes und der Niederlage im Zweiten Weltkrieg.

Wie sieht das Gedenken heute aus?

2009 hat sich das „Aktionsbündnis 8. Mai“ in Demmin gegründet. Es organisiert jedes Jahr die Gegendemonstration zum Aufmarsch der Neonazis in Demmin. Das Bündnis aus Bürgern, Parteien, Vereinen und Gewerkschaften veranstaltet außerdem ein Friedensfest auf dem Demminer Marktplatz. 2024 beteiligten sich laut Polizei rund 600 Menschen an den Protesten gegen den Neonazi-Aufzug, bei der rechtsextremen Demonstration wurden 260 Teilnehmende gezählt.
Das Gedenken an den Massenselbstmord und den 8. Mai 1945 spaltet die Demminer. Über 47 Prozent der Wahlberechtigten haben bei der letzten Bundestagswahl die AfD gewählt. Viele Teilnehmende – sowohl der rechtsextremen Demonstration als auch der Gegenproteste – kommen selbst nicht aus Demmin, sondern reisen für die Veranstaltungen am 8. Mai von außerhalb an. 
Auch die Stadt selbst bemüht sich um das Gedenken an den Massensuizid von 1945. Auf dem Bartholomäus-Friedhof erinnert ein Findling mit einer Inschrift an die Tragödie, hinter dem die Massengräber der Verstorbenen liegen. Die Stadt hat einen „Garten der Erinnerung“ gestaltet, am Hafen der Peene, wo sich viele Menschen ertränkt haben, sind Informationstafeln angebracht. Der Jahrestag am 8. Mai wird von einer Aktionswoche mit vielen Veranstaltungen begleitet. In diesem Rahmen werden auch die Namen aller Suizidopfer von 1945 in der St. Bartholomaei Kirche verlesen. „Lange verschwiegen erklingen die Namen in die Stille der Kirche“, heißt es im Programm der Aktionswoche.
kau
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