Sentimentalität

Warum wir an Weihnachten rührselig sein dürfen

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Lebkuchenherzen hängen auf dem Leipziger Weihnachtsmarkt.
Gehört für viele Menschen zu Weihnachten: zuckersüße Lebkuchenherzen. © picture alliance / dpa / Jan Woitas
Überlegungen von Andrea Roedig · 17.12.2023
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Besinnung, Liebe, Kitsch: In der Weihnachtszeit werden wir sentimental. Die Rührseligkeit wird oft verlacht und hat ohne Frage problematische Seiten. Aber auch viele gute! Andrea Roedig plädiert dafür, sie einfach zuzulassen.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht – aber mir steht das Wasser in den Augen, wenn die Eisprinzessin „Ich bin frei“ singt, wenn die Liebenden sich endlich in den Armen liegen, der Bösewicht geläutert seinen letzten Atemzug tut, kurzum: Sobald die Geigen einsetzen am Schluss von egal welchem Hollywood-Schmachtfetzen, muss ich weinen. Beschämt tupfe ich die Tränen ab, denn es ist wirklich peinlich, wie einfach sich die Maschine großer Gefühle in Gang setzen lässt. Während Ungerechtigkeit, Gewalt und Gemeinheit unmittelbar Empörung triggern, so sind Liebe, Happy End, Zärtlichkeit, Güte und Weihnachten wie Kippschalter für das Gegenteil: die zarte Rührung der Sentimentalität.

Fake und verlogene Gefühlsduselei

Dass sich diese Gefühligkeit so schnell hervormanipulieren lässt, muss skeptisch machen. Irgendwas ist faul an Sentimentalität - und nicht zu Unrecht hat sie in der Kunst und in der Philosophie einen schlechten Leumund: Sie ist kitschig, übertrieben, unangemessen und banal. Die beste Definition dafür hat Oscar Wilde gegeben: Der Sentimentalist wünsche sich den Luxus eines Gefühls, ohne dafür bezahlen zu wollen, schrieb Wilde wütend. Die Essayistin Leslie Jamison wiederum vergleicht Sentimentalität mit künstlichem Süßstoff – schmeckt wie Zucker, ist billig und hat keinen Nährwert.
Die Vorbehalte gegen Sentimentalität wiegen schwer, und sie sind nicht nur ästhetischer, sondern auch ethischer Natur: Als Fake scheint Sentimentalität nämlich gar kein echtes und tiefes Fühlen zu befördern, sondern verlogene Gefühlsduselei. Sentimentalität sei ein Fest für Zyniker, meint Oscar Wilde. Oft ist das Sentimentale auch gar nicht Rührung über einen Gegenstand, sondern eher die Rührung übers eigene Berührtsein: „Schau nur, wie gefühlvoll ich bin, ich bin ein echter Mensch, ich weine.“ Schlächter und Schergen lassen sich von klassischer Musik zu Tränen rühren – es hindert sie nicht an ihren Mordtaten. Sentimentalität, so viel steht fest, macht uns nicht zu besseren Menschen.

Weihnachtliches Fühlen

Aber es gibt auch Verteidigerinnen und Verteidiger des Sentimentalen. Die schon zitierte Essayistin Leslie Jamison fragt, ob wir nicht etwas retten können an der Süße des Gefühlsüberschwangs, ob wir nicht das „Weihnachtsrisiko“ eingehen müssen, wenn wir etwas von Bedeutung schreiben, denken und zustande bringen wollen. Denn was ist falsch an dem Wunsch, für große Gefühle nichts zu bezahlen? Das Sentimentale ist – in christlicher Terminologie – tatsächlich ein weihnachtliches Fühlen, kein österliches. Es ist ein Fühlen vor dem Sündenfall sozusagen, kindlich und regressiv, es möchte etwas Schönes geschenkt bekommen ohne Gegengabe und Schuld, es möchte das Wunder, dass alles einfach nur gut ist.

Ein zutiefst menschlicher Wunsch

Das Sentimentale, so würde ich sagen, ist kein falsches Gefühl, sondern ein echtes Gefühl am falschen Platz, und vielleicht brauchen wir so etwas wie eine über sich selbst aufgeklärte, kluge und doch positive Sentimentalität. Sie weiß um ihre Schwächen, sie beobachtet sich und lässt das Naiv-Gefühlvolle dennoch zu. Denn im fetten, sentimentalen Kitsch liegt eine Wahrheit, offen und unverborgen. Es ist die Wahrheit eines zutiefst menschlichen Wunsches nach Erlösung, und wir dürfen und müssen uns von ihm berühren lassen. Wir müssen uns – hin und wieder – wirklich Wunder wünschen, Frieden, Versöhnung und ein Geschenk ohne Anstrengung und Schuld. Weihnachten ist die Zeit dafür.

Andrea Roedig ist Philosophin und Publizistin. Sie ist Mitherausgeberin der österreichischen Kultur- und Literaturzeitschrift "Wespennest". 2015 erschien gemeinsam mit Sandra Lehmann der Interviewband "Bestandsaufnahme Kopfarbeit" (Klever Verlag) und zuletzt die autofiktionale Erzählung "Man kann Müttern nicht trauen" bei dtv.

Porträt der Publizistin Andrea Roedig.
© Elfie Miklautz
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