Déformation professionnelle

Was der Beruf aus uns macht

31:44 Minuten
Illustration: Eine Frau sitzt an einem Schreibtisch mit Topfpflanzen in einer Wolkenlandschaft.
Der Job prägt uns und unser Verhalten. Kein Wunder, verbringen wir doch einen Großteil unseres Lebens an unserem Arbeitsplatz. © imago / Ikon Images / Jamie Jones
Von Heiner Kiesel · 27.06.2022
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Rechthaberische Lehrerinnen, dominante Polizisten und akribische Juristinnen: Die Arbeit verändert uns stärker, als den meisten bewusst ist. Das hat Folgen für das Privatleben. Was passiert, wenn wir immer im Dienst sind?
Halle an der Saale. Wir sind in einem langgestreckten Zweckbau. Er gehört zum Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt. Hier ist der Arbeitsplatz Jörg Orschiedts. Er ist Referent für Anthropologie am Landesamt und bearbeite in Forschungsprojekten menschliche Skelettreste.
Was soll das, fragen Sie sich jetzt vielleicht. Alte Knochen, Steinzeitmenschen – wie passt das zu einer Sendung über berufsbedingte Macken, über das, was der Bildungsbürger, eine Déformation professionnelle nennt?
"Es geht unmittelbar um den Menschen“, sagt Jörg Orschiedt über seinen Beruf. „Wir sind so nah dran am vorgeschichtlichen Menschen, wie man nur sein kann." Er deutet auf die ordentlich ausgelegten Knochen auf dem Tisch. Sie gehören einer Frau, die vor 9000 Jahren gelebt hat. Jemand, der auch heute in der Fußgängerzone nicht sonderlich auffallen würde. „Das ist Homo sapiens. Das sind Menschen wie wir das auch sind. Aber es sind natürlich Menschen, die unter anderen Umständen gelebt haben."
Es ist ein guter Ort, um einmal nachzufragen, wann das mit derartigen Verformungen angefangen hat, wie das überhaupt zum Menschen passt. "Man muss sich klarmachen, dass wir über 90 Prozent der Menschheitsgeschichte hinweg Jäger und Sammler waren. Wir hatten noch nicht mal ein festes Dach über dem Kopf“, sagt Orschiedt. Aus archäologischer Perspektive sei unsere Lebens- und Arbeitsweise also eine ziemlich neue Entwicklung, nicht der Originalzustand.

Ursprünglich gab es keine festen Berufsrollen

Der wäre aus der Sicht eines Anthropologen eher so: Vertreter unserer Gattung waren viel unterwegs in kleinen Verbänden. Da hat jedes Mitglied der Gruppe überall mit Hand angelegt. Feste Anführer gab es wahrscheinlich nicht – genauso wenig wie eingefahrene Geschlechterrollen.
Falls jemand eine sonderbare Eigenart hatte, dann konnte man das nicht darauf zurückführen, dass das eben nun einmal typisch Faustkeilmacher oder typisch Chef ist. Das gab es nun einmal so nicht. Eine egalitäre Gesellschaft. Der Alltag hat bei allen im Großen und Ganzen die gleichen Spuren hinterlassen – vor allem muskulöse Beine. Bei sesshaften Menschen sehe das ganz anders aus, so Orschiedt. „Da können wir zum Teil sehr deutlich Arbeitsteilung feststellen oder dass bestimmte Bewegungsabläufe stärker im täglichen Leben verankert waren als andere."
Porträt des Prähistorikers Jörg Orschiedt
Erst in der Frühbronzezeit spezialisierten sich die Menschen auf bestimmte Tätigkeiten, sagt der Prähistoriker Jörg Orschiedt.© picture alliance / dpa / Sebastian Willnow
Und schon geht es los mit der Verformung des Menschen. Orschiedt erkennt an Knochen aus der Jungsteinzeit, dass die Oberkörper stärker belastet wurden, dass viel mehr in einer Haltung, an einem Ort verrichtet wurde. Zum Beispiel: den ganzen Tag Getreide mahlen. Orschiedt beugt sich zu einem der Schienbeinknochen seiner Sammlung und deutet auf das Sprunggelenk. „Das ist eine Vergrößerung der Gelenkfläche.“ Typisch für Menschen, die den ganzen Tag in der Hocke sitzen.

Spezialisierung in der Frühbronzezeit

Mit der Metallbearbeitung in der Frühbronzezeit hätten sich dann Tätigkeitsbereiche wie Bronzegießer und Händler herausgebildet. „Weil das eine komplexe Angelegenheit ist, wegen der Brenntemperatur und des Rohmaterials. Das sind Leute, die müssen über spezielle Fähigkeiten verfügen. Das sind sicherlich die Ansätze, von denen man sagen kann, dass es da schon berufsspezifischer wird."
Vielleicht ist das die Epoche in der Menschheitsgeschichte, in der wir anfangen, so mit unseren Tätigkeiten zu verschmelzen, dass sie ganz individuell Einfluss nehmen auf das persönliche Verhalten.
Orschiedt nennt ein Beispiel aus der Eisenzeit, das man schon ein bisschen als Ausdruck einer berufsbedingten Veränderung sehen kann. Eine erste Déformation professionnelle vielleicht. "Wo wir über die Römer Schriftquellen zu den Kelten haben, wissen wir, dass die keltischen Krieger eitel waren, dass sie sich in einer bestimmten Weise verhalten haben und sehr auf ihr Äußeres bedacht waren. Das sind sicherlich Dinge, die mir ihrer Haltung, mit ihrem Status und ihrer Position als Krieger in der Gesellschaft etwas zu tun haben. Auf der anderen Seite wissen wir über die normalen Leute wenig."

Typisch Sozialarbeiterin, typisch Lehrer

Beate habe schon verschiedene Berufe gehabt, erzählt Olli über seine Partnerin. Am Anfang war sie Sozialarbeiterin, jetzt ist sie Lehrerin. „Der Schritt ist schon deutlich zu merken. Als Sozialarbeiterin hat sich häufig in Gruppen eine extreme Nähe gesucht. Das ist mit dem Lehrersein weggefallen. Das ist schon distanzierter geworden. Das ist das Auffälligste."
Was macht der Beruf aus uns? Das fragen sich auch Beate und Oli. Die beiden wohnen in Köln. Dass da etwas passiert, ist für die beiden irgendwie naheliegend. Schließlich geht es um Beschäftigungen, denen wir einen Großteil unserer Lebenszeit widmen. Das macht doch etwas mit der Person, gehört zu einem. Das sieht man doch in der Familie, bei den Kollegen und Freunden. Ja, und bei sich selbst doch auch!
Zum Beispiel bei seiner Tante und seinem Onkel, sagt Olli, die beide Lehrer waren, „so extrem rechthaberisch sind und keine andere Meinung zulassen.“ Das sei schon auffällig. Zum Glück habe sie das nicht, meint Beate, aber: „Ich erlebe das manchmal auch bei den Kollegen, dass sie ein bisschen unflexibel auf mich wirken, wenn die schon seit jeher in diesem Beruf waren. Auch so eine gewisse Spontaneität vermisse ich bei den Kollegen."

Denkmuster und Routinen

Der Vorgang, der dahintersteht, könnte so aussehen: Wir eignen uns in unserem Arbeitsumfeld Routinen an, mit denen wir unsere Aufgaben erkennen, beurteilen und lösen. Wir lernen, welche Handlungs- und Denkmuster uns weiterbringen, werden von den Leuten, mit denen wir arbeiten, bestärkt oder korrigiert, genießen Erfolg und Anerkennung.
So könnte durch das Berufsleben gewohnheitsmäßig ein bestimmter Blick auf die Welt entstehen, ein Gefühl dafür, wie wir an Probleme und Situationen herangehen sollten, um sie zu bewältigen. Am Ende wird das tief in den Basalganglien des Gehirns eingeprägt, sodass wir gar nicht mehr darüber nachdenken müssen.
"Da du ein flexibler Mensch bist, kommt das Negative nicht so zum Tragen“, sagt Olli zu Beate und darüber, wie sich ihre Arbeit als Lehrerin auf ihr tagtägliches Verhalten auswirkt. „Im Positiven ist es so: Beim Kindergeburtstag hast du ein enormes Volumen in der Stimme und die Kommandos werden in der Regel befolgt." Am Ende wird diese berufsbedingte Perspektive ganz automatisch eingenommen, egal ob sie in der konkreten Situation angebracht ist oder nicht. Der betreffenden Person fällt das vielleicht nicht sonderlich auf, aber mit ein bisschen Distanz wirkt das schon ziemlich schrullig.

Déformation professionnelle – ein Modewort

Der Beruf, der die Persönlichkeit formt: Im Bildungswortschatz gibt es dafür den Begriff der Déformation professionnelle. Französisch, das klingt erstmal kultiviert und viel netter als berufsbedingte Entstellung, oder gar Missbildung.
Der Begriff war in der Medizin schon eine Weile im Umlauf, um berufsbedingte Krankheiten zu beschreiben. Dafür gibt es zahlreiche Belege in Fachzeitschriften des 19. Jahrhunderts. Missbildungen bei Schäfern und Seilern – eine Hockerfacette der Gelenke wäre auch so bezeichnet worden: die Verformung des Fußgelenks bei den Steinzeitmenschen, durch die Hockstellung beim Arbeiten.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verwenden den Begriff Deformation professionnelle auch Intellektuelle, Künstler, Völkerrechtler, Militärhistoriker und Pädagogen, wenn sie sich kritisch mit beruflichen Verhaltensmustern beschäftigen und Fehlentwicklungen darauf zurückführen. In den 1920er- und 1930er-Jahren verbreitet sich der Ausdruck rasant. Ein Modewort. So schön nasal und abwertend, aber noch mit einer Restschärfe der ärztlichen Diagnose.

Anpassung an die Umwelt

Der belgische Soziologe Daniel Warnotte mag den Begriff nicht sonderlich, als er ihn 1937 in seinem Aufsatz „Bürokratie und Beamtentum“ verwendet. Er ist ihm zu ungenau. Warnotte beschäftigt sich mit dem schlechten Image der Leute in Verwaltungen und spekuliert, warum Beamte bisweilen so menschenfern penibel agieren und so eingenommen sind von ihrer eigenen Wichtigkeit. Stellvertreter staatlicher Macht, mit engem Handlungsspielraum und großem Gruppendruck, beobachtet Warnotte. Bewerten will er das nicht.
Er schreibt, dass es treffender ist, von einer Adaption, einer Anpassung an den Beruf zu sprechen, und die sei ja ganz normal, weil sich der Mensch an seine Umwelt anpasse.
Buch, darin der Aufsatz „Bürokratie und Beamtentum“ des belgischen Soziologen Daniel Warnotte
In seinem Aufsatz „Bürokratie und Beamtentum“ beschäftigt sich der belgische Soziologe Daniel Warnotte mit dem schlechten Image der Leute in der Verwaltung.© Heiner Kiesel
Bei ihm sei das Ganze etwas komplizierter, sagt Olli, weil er drei Berufe habe: angestellter Professor, Regisseur und Cutter. „Wenn ich mehrere Monate nur geschnitten habe, bin ich deutlich zurückgezogener, auch in Gesprächen. Da ergreife ich deutlich weniger das Wort, als wenn ich Regie führe.“ Als Professor sei das anders. „Einmal ist der Sprachgebrauch anders, der ist – negativ formuliert – gestelzter, aber auch so, dass man guckt, dass man jeden mitnimmt, Gendern und so weiter. So bin ich dann in Gesprächen auch immer der, der auch aufpasst, dass alle auch alles mitkriegen."

Autoritäre Einstellungsmuster bei der Polizei

Déformation professionnelle, damit habe sie sich wissenschaftlich noch nicht beschäftigt, sagt Eva Groß. „Aber ich stelle mir darunter die Frage vor, inwiefern das berufliche Alltagsleben mein Privatleben beeinflusst und überzieht – in Wertehaltungen, Handlungsroutinen und -mustern, die ich beruflich auch an den Tag legen muss, wie sich das auf meine Haltung oder generelle Einstellung und Persönlichkeit auswirkt."
Es wird Zeit für ein bisschen moderne Wissenschaft bei einem Thema, zu dem praktisch jeder etwas beitragen kann, weil er jemanden kennt, von dem er sagt: Der Beruf hat ihm einen Stempel aufgedrückt. Aber das zweifelsfrei festzustellen ist eine komplexe Angelegenheit. Wir sind wieder bei den Beamten, oder – aus der Sicht eines Anthropologen vielleicht – den Kriegern: Eva Groß lehrt und forscht an der Akademie der Polizei in Hamburg.
"Meine Gedanken dazu, mit Blick auf den Polizeiberuf im Vergleich zu anderen Berufen, gehen in diese Richtung, dass ich denke, dass dort dieses Phänomen deutlich stärker vorliegt, als in anderen Berufen“, sagt Eva Groß. „Weil diese Berufe Gefahrengemeinschaften und auch Anwendung von Gewalt beinhalten. Dass das, insbesondere bei der Polizei, einen deutlich stärkeren Einfluss auf die soziale Identität insgesamt hat, als vielleicht bei einer Sekretärin oder Buchhalterin."

Selektions- und Sozialisationshypothese

Die Forschung zeigt, dass unter Polizisten bestimmte Einstellungen weiter verbreitet sind, als im Rest der Bevölkerung. Die wenigen Studien dazu deuten an, dass sich in der Polizei mehr finden, die autoritäre Einstellungsmuster zeigen. Sie finden also ein hartes Durchgreifen gut, begrüßen autoritäre Strukturen und misstrauen Menschen, die sie für Migranten halten.
Aber das könnte natürlich alles auch daran liegen, dass die Polizei aufgrund ihrer Struktur gerade eher autoritär eingestellte Personen anzieht. Ein Henne-oder-Ei-Problem. "Die Selektionshypothese besagt letztlich, dass Menschen von einer Organisation aufgrund ihres Images und ihrer Werte angezogen werden und diese Kultur diese Menschen dann auch auswählt“, so Groß. „Die Polizei ist eine autoritär, hierarchisch strukturierte Organisation, was sie auch sein muss, weil sie schnell reagieren muss. Dann wäre die Hypothese, dass sie eher Personen anzieht, die eine hohe soziale Dominanzorientierung haben, hohe Punitivität sozusagen. Und die Sozialisationshypothese würde sagen, dass sich im Laufe der beruflichen Ausbildung, der Berufspraxis die Werte des Individuums den organisationskulturellen Werten anpassen, dass das ein längerfristiger Prozess ist."
Was war zuerst, die Person oder die Deformation? Was ist eigentlich die Veränderung und hängt sie wirklich mit dem Beruf zusammen? Eva Groß hat Studierende der Hamburger Polizeiakademie zu Ausländerfeindlichkeit und Autoritätshörigkeit befragt. Die Forscherin hat festgestellt, dass sich der aktive Polizeidienst auf viele Bereiche unterschiedlich auswirkt. Auch andere Studien zeigen das. Mit Blick auf die Einstellung zu Minderheiten, aber auch bei Dominanz- und Autoritätshaltung sind die Ergebnisse problematisch. 

Metzger und Politiker

Haibach ist ein kleines ordentliches Dorf ziemlich im Osten Bayerns, Straubing ist nicht weit weg. Hier wohnen die Rainers. Alois ist Metzgermeister – unter anderem – und seine Frau Gaby verkauft die kunstvollen Fleischprodukte in der appetitlichen Theke.
"Wir machen alles selbst bis auf ein paar Rohwurstsorten. Sämtlicher Schinken, sämtliche Wurst werden in der eigenen Metzgerei produziert“, erzählt Alois Rainer. Was der Beruf des Metzgers mit einem so macht? Er esse gerne Fleisch und Wurst. „Es sollte bei mir zumindest einmal täglich etwas Wurstiges oder Fleischiges dabei sein. Wobei die gesamte Familie schon die beiden Fastentage Aschermittwoch und Karfreitag einhalten. Da gibt es definitiv kein Fleisch."
Das Leben unter Metzgern sei eigentlich „ganz normal“, sagt Alois Frau Gaby. „Aber die können oft schon ein wenig narrisch werden, ein wenig grantig.“ Ihr Mann ist aber mittlerweile Metzger zum Politiker geworden ist, zum Bürgermeister und jetzt Bundestagsabgeordneten. Kann man da eine Veränderung am Menschen feststellen? Auf jeden Fall, sagt Gaby. „Er ist ruhiger geworden, gelassener. Ich glaube auch, dass er die Nerven besser behält.“
Ist das nicht eine super Idee, mit einem Besuch gleich drei Fragen abzuhaken: Was macht der Beruf aus einem, wie nimmt man den in den Nächsten mit und was kommt am Ende dabei raus? Und das Ganze noch bei einem aufsteigenden Bundestagsabgeordneten. Von der Fleischerei zum Vorsitzenden des Finanzausschusses: Alois Rainer von der CSU. Wo wir Bürger uns doch ständig fragen, wie ticken unsere Entscheider und welche Prozesse finden bei ihnen statt, wenn sie ihre Position erkämpft haben?
Der Bundestagsabgeordnete Alois Rainer
Handwerker gehen politische Probleme sehr viel praktischer an, sagt der Metzger und Bundestagsabgeordnete Alois Rainer.© Heiner Kiesel
Das sind doch beruflich bedingte Deformationen, die uns alle etwas angehen! Das Interview, das alles zum Thema Déformation professionnelle erklärt, davon träumt man als Journalist! Mit einem Augenzwinkern – der Metzger im Parlament. Das gibt Klicks!
"Selbst Handwerker könnten ein Land nicht ganz anders machen, als wie es jetzt ist. Vielleicht würden manche Entscheidungen schneller und pragmatischer und etwas unbürokratischer fallen. Das könnte ich mir vorstellen. Unserem Land würde es mit Sicherheit so gut gehen, wie jetzt. Davon bin ich überzeugt“, sagt Alois Rainer.

Ein schönes Schlusswort, aber für mich als Journalist bei einem Qualitätsmedium geht es jetzt erst richtig los. Da muss es dann ein bisschen mehr sein, als so ein netter Einzelfall. Das große Ganze erklären, darunter mache ich es nicht. Dabei helfen dann immer ExpertInnen. Gelernt ist gelernt. Hier kommt die Basler Politikwissenschaftlerin Stefanie Bailer ins Spiel.
„Ich denke, so ein Beruf prägt natürlich“, sagt sie. „Das sehen wir am allerdeutlichsten bei den Landwirten, die oft als Lobbyisten im eigenen Beruf agieren. Die Anwälte haben ein Interesse so zu arbeiten, wie sie das gewöhnt sind. Sie bringen viel Fachexpertise ein. Bei Lehrerinnen und Lehrern erwarten wir einerseits Fachkenntnis, aber auch ein Interesse, den eigenen Berufstand zu sichern und das eigene Budget zu erhöhen, weil sie ja immerhin in den meisten Fällen für den Staat arbeiten. Wir erwarten auch von Leuten mit Wirtschaftserfahrung, dass sie eben auch da die Interessen der Wirtschaft eher berücksichtigen. In einigen Fällen können wir das auch tatsächlich zeigen."

Parlamentarier und ihre Berufserfahrungen

Bailer beschäftigt sich seit einem Vierteljahrhundert mit den Karrieren und dem Entscheidungsverhalten von Parlamentariern. Menschen, die so intensiv wie kaum eine andere Gruppe von Wissenschaft und Öffentlichkeit beobachtet wird. Wir wissen immer genauer, wer mit welchem Hintergrund welche Interessen vertritt. Dass es etwas ausmacht, wie hoch der Anteil von Frauen oder Menschen mit Migrationshintergrund im Bundestag ist.
Welchen Politikstil die Berufe und Ausbildungen mit sich bringen, wäre vielleicht auch ganz interessant – denn die gewählten Volksvertreter sind zu einem großen Teil Juristen, Lehrer und Beamte. "Wahrscheinlich bin ich nicht die Richtige, das zu beurteilen“, meint dazu Stefanie Bailer. Das liegt aber nicht an ihr. Es fehlt einfach die Forschung dazu. Außerdem, gibt die Politikwissenschaftlerin zu bedenken, würden solche Einflüsse wahrscheinlich durch Mitarbeiterstäbe in Parlament und Ministerien abgemildert – also wieder vor allem durch Juristen.
Was bleibt, ist die Frage, wie das Politikersein auf die Einzelnen zurückwirkt? Für Stefanie Bailer ein überaus spannendes Feld. Sie weiß, dass Politiker und Politikerinnen eher extrovertierte Gestalten sind, gute Netzwerker mit hoher Frustrationstoleranz und Belastbarkeit. Sie wollen gestalten, genießen Aufmerksamkeit, Privilegien und Macht. Was macht das mit ihnen?
Das ist schwer herauszufinden. Denn Politiker „überhaupt nur einmal zu einem Interview zu kriegen ist schon wahnsinnig schwer, ein zweites Mal, damit man Veränderungen über Zeit messen kann, noch schwerer“, sagt Bailer. „Das ist sehr, sehr selten bisher gelungen. Die Studien, die ich finden konnte, die basieren auf 45 Interviews von Leuten, die bereit waren zweimal bei der gleichen Umfrage teilzunehmen, zu zwei Zeitpunkten. Also das ist dann wirklich sehr wenig Datenbasis."
Bailer würde liebend gerne in einer Studie dieselben Politikerinnen und Politiker mehrere Jahre begleiten. Die Aussichten dafür sind schlecht. So bleiben nur die vielen anekdotischen Schlaglichter auf das Politikersein. So etwas wie Herlinde Koelbls Dokumentation von den „Spuren der Macht“, in denen man die Merkels, Fischers und Schröders dabei betrachten kann, wie sie faltiger werden, und die davon erzählen, wie sich das Politikleben angefühlt hat.
Das ist unterhaltsam, aber natürlich keine Wissenschaft. Wobei, wenn es um die Auswirkungen von Macht auf die Persönlichkeit geht, wir tappen da nicht ganz im Dunkeln, dazu gibt es brauchbare Daten: Dass Chefs mehr Kekse vom Teller nehmen als Untergebene etwa, dass Machtgefühle Empathie verhindern und Leute im dicken BMW eher Zebrastreifen missachten, als wenn sie im Kleinwagen sitzen – das ist belegt. Eine Deformation durch Macht – aber völlig berufsunabhängig.
"Natürlich verändert dich das“, sagt Alois Rainer. „Gerade in jungen Jahren ist es für den einen oder anderen auch schwierig, das auch einzusortieren. Da bist du überall der Herr, die Frau Abgeordnete, hin und her und rauf und runter. Ich kann an die jungen Kolleginnen und Kollegen nur appellieren, dass sie sich das nicht zu Kopf steigen lassen. Die Gefahr ist da!"

Kaum Forschungsergebnisse

Es wird Zeit, ein bisschen Abstand zu nehmen von den alltäglich registrierten Macken bei uns und unseren Mitmenschen, die wir mit dem jeweiligen Beruf zusammenbringen. Dabei hilft Silke Müller-Hermann, vom Haus aus Soziologin. „Das ist wahrscheinlich das Prägendste für mein Denken. Ich bin aber auch an der Hochschule für Soziale Arbeit Dozentin." Ihre Déformation professionnelle: „Ich merke, dass ich im Alltag nicht gut damit zurechtkomme, wenn Aussagen für mich keinen Sinn ergeben. Dann möchte ich das gerne verstehen, wieso das dazu kommt, warum das für mich keinen Sinn ergibt und was da fehlt. Aber da reiße ich mich am Riemen, wenn ich merke, dass das sozial unangemessen ist."
Auch wenn sich die Berufssoziologin anfangs gerne auf die Idee mit der Déformation professionnelle einlässt, wird sie bald immer skeptischer. Dass es so etwas gibt, das gilt eigentlich als weithin akzeptiert. Warum eigentlich? Das reizt die Wissenschaftlerin Silke Müller-Hermann. Was wissen wir – mal abgesehen vom Spezialfall der Polizisten – denn eigentlich gesichert über den Effekt der beruflichen Sozialisation auf unsere Persönlichkeit?
Passiert da wirklich etwas, das einen verformt, das einen irgendwie unnatürlich macht? Ihres Wissens gibt es keinerlei Fallstudien, die sich dem Thema über Jahrzehnte hinweg gewidmet haben. "Das müsste man mal prüfen, welche Regeln in einem Beruf unhinterfragt Geltung beanspruchen“, sagt Müller-Hermann „Die müsste man identifizieren und schauen, ob die von den Personen, die diesen Beruf ausüben, auch im Privaten in Anschlag gebracht werden. Das müsste man identifizieren und schauen, wie eignet sich das auch, das ins Private zu übertragen. Dann müsste man Felder kontrastieren, die mal näher und mal weiter vom Privaten weg sind."

Wirklich typisch Künstler, typisch Metzgerin?

Wo ist da das Problem? Sehen wir denn nicht jeden Tag Effekte der beruflichen Verformung um uns herum? Bei Polizisten, Lehrern und Handwerkern? Das sind Personen, die wir bei ihrer beruflichen Tätigkeit beobachten können, sagt Müller-Hermann. Polizist:innen, Handwerker:innen, Lehrer:innen. „Die Chemikerin, den Chemiker, die sehen wir nie. Da ist schon ziemlich evident, dass wir uns da Bilder gemacht haben aus der persönlichen Erfahrung. Ich würde dafür plädieren, die immer kritisch zu hinterfragen. Denn meine eigene Erfahrung mit einem ganz kleinen Ausschnitt von Berufsangehörigen lässt sich ja nicht immer übertragen auf den gesamten Berufsstand."
Wir sehen, was wir erwarten und reagieren wie gewohnt darauf. Das macht uns den Alltag leichter, wird aber den Menschen, mit denen wir zu tun haben, nicht wirklich gerecht. Machen wir es uns nicht zu leicht, wenn wir nach dem Skurrilen im Outfit der Kunstlehrerin und dem Grobschlächtigen beim Fleischer suchen oder den Aktenhengst im Juristen aufspüren?
Wenn der Beruf den Menschen formt – wie fein soll man das mit der Beschreibung der Deformationen treiben? Die Bundesanstalt für Arbeit klassifiziert 18.700 Berufsbezeichnungen in ihrer Datenbank – von der Abbrucharbeiterin bis zur Zytologieassistentin. Jeder Mensch bringt sein eigenes Set an Eigenschaften ein. Unendliche Kombinationen!
Porträt der Soziologin Silke Müller-Hermann
Forschungsergebnisse zum Thema Déformation professionnelle gebe es kaum, sagt die Soziologin Silke Müller-Hermann.© Heiner Kiesel
"Das ist jetzt wieder etwas – da kommen wir wieder auf meine eigene Déformation professionnelle: Was ich jetzt gemacht habe in unserem Gespräch, das ist, die Komplexität zu erhöhen, aber eigentlich war die Aufgabe, Komplexität eher zu verringern“, sagt Silke Müller-Hermann.

Disposition für soziale Berufe

Die Soziologin nimmt aber doch noch einen Anlauf zur Vereinfachung. Eigentlich sei dieses Thema von der falschen Seite aufgezogen. Sie will gar nicht in Abrede stellen, dass berufliche Praxis Einfluss auf die Persönlichkeit nimmt, aber vor allem sei es doch so, dass eher die Tätigkeit gewechselt wird, als der Charakter. Das ist übrigens auch der Eindruck, der von vielen Fachleuten im Personalwesen geteilt wird.
Silke Müller-Hermann verweist auf ihre Untersuchungen auf dem Gebiet der sozialen Berufe. „Für die würde ich behaupten, dass da die Disposition, also das Interesse zuerst da ist und dann dazu passend ein Beruf gesucht wird, oder dass die Berufswahl zumindest davon mitbestimmt ist.“ Das könne man allerdings nicht verallgemeinern auf alle Tätigkeiten. „Deswegen ist mir das wichtig, eine bestimmte Gruppe von Berufen davon abzugrenzen. Es kann natürlich auch ganz andere Gründe geben, die zu einer Berufswahl führen. Interesse und Neigung sind jetzt schon etwas sehr Luxuriöses, das ist mir schon bewusst."
Ein interessantes Thema für die nächste Recherche sei doch, wie persönliche Überzeugungen die Berufstätigkeit gestalten oder verunstalten, sagt Müller-Hermann bei der Verabschiedung nach dem Interview. Ein griffiger Ausdruck dafür: „Déformation privée. Hauptsache Französisch!"

Autor: Heiner Kiesel
SprecherInnen: Tonio Arango und Henry Thaon
Regie: Frank Merfort
Technik: Hermann Leppich
Redaktion: Martin Mair

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