Familienwahlrecht

Wem es nützt, wenn Eltern für ihre Kinder wählen

04:30 Minuten
Ein Mann steht mit einem Kind im Arm und einem Kleinkind auf den Schultern vor einem Zaun, dahinter Bäume und ein Haus. Der Mann lächelt in die Kamera.
Was tun, um die Interessen junger Menschen an Wahltagen zu stärken? Schon mehrfach wurde im Bundestag über ein Familienwahlrecht diskutiert. © Unsplash / Nathan Dumlao
Ein Kommentar von Thorsten Faas · 08.01.2024
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Mit einem Familienwahlrecht könnten die Interessen junger Menschen am Wahltag mehr Gewicht bekommen. Aber würden Eltern auch im Sinne ihrer Kinder abstimmen? Der Politkwissenschaftler Thorsten Faas hat nachgeforscht.
2024 wählen wir die Abgeordneten des Europäischen Parlaments neu. Für Deutschland wird das mit einer Premiere verbunden sein: Die Europawahl 2024 ist die erste bundesweite Wahl, bei der 16- und 17-Jährige mitwählen dürfen. Rund 1,5 Millionen junge Menschen in Deutschland werden dann erstmals wahlberechtigt sein.
Aber machen wir uns nichts vor: Allzu groß wird der Effekt nicht sein. Dafür ist die Gruppe der 16- und 17-Jährigen im Land schlicht zu klein. Der Anteil der Wahlberechtigten über 60 wird weiterhin mehr als doppelt so groß sein wie der Anteil der Unter-30-Jährigen.
Was also tun, um die Interessen junger Menschen an Wahltagen zu stärken? Man könnte über weitere Absenkungen der Wahlaltersgrenze nachdenken. Auf 14 Jahre? 12? 10? Allerdings wird man irgendwann einen Punkt erreichen, wo die Sinnhaftigkeit zurecht infrage gestellt würde. Ein Säugling wird seine Stimme zwar problemlos laut erheben, aber vielleicht doch nicht gut am Wahltag abgeben können.
Oder könnte jemand stellvertretend für den Säugling wählen, zum Beispiel die Eltern? Im Deutschen Bundestag wurden solche Forderungen nach einem „Wahlrecht ab 0“ – auch Eltern- oder Familienwahlrecht genannt – schon zwei Mal verhandelt und letztlich abgelehnt. Schließlich könne weder erwartet noch kontrolliert werden, dass die Wahlrechtsausübung tatsächlich im Interesse der Kinder erfolge, hieß es etwa 2003 in der Beschlussempfehlung des zuständigen Innenausschusses.
In der Tat: Die Vorstellung, dass manche Menschen am Wahltag mit mehr Stimmgewicht ins Wahllokal gehen als andere, ist mit dem Gleichheitsgrundsatz der Demokratie schwer vereinbar. Und was würde das für den Grundsatz der geheimen Wahl bedeuten? Müssten die Eltern mindestens ihren Kindern gegenüber offenlegen, was sie in ihrem Sinne getan haben? Das sind schwerwiegende Punkte, keine Frage.

Eine Stimme für Papa, eine Stimme fürs Kind

Zugleich muss man sagen: Wir wissen nicht, wie Eltern für ihre Kinder abstimmen würden. Würden sie einfach der Partei ihrer Wahl mehrere Stimmen geben? Oder doch ganz anders abstimmen, also zum Beispiel selbst die FDP wählen und fürs Kind dann noch die Grünen? Wir haben dazu einfach mal Eltern gefragt und zu einem Gedankenexperiment eingeladen: Wie würden sie für ihre Kinder abstimmen? Ergebnis: Dreiviertel würden einfach der gleichen Partei mehrere Stimmen geben, etwa jedes vierte Elternteil würde für seine Kinder eine andere Partei wählen als für sich selbst. Allerdings muss auch diese andere Partei „im Rahmen“ bleiben, also auch für die Eltern akzeptabel sein.
Ob die Eltern für ihre Kinder eine andere Partei wählen würden als für sich selbst, hängt auch davon ab, für wie wichtig sie das Thema „Klimawandel“ halten. Eltern gäben dann häufiger eine andere Kinderstimme ab, wenn sie dem Klimawandel eine mittlere Bedeutung zumessen. Eltern, denen der Klimawandel keine oder nur geringe Sorgen bereitet, tun dies seltener. Und Eltern, die dem Thema eine hohe Bedeutung zuweisen, wählen ohnehin die Partei, der sie auf diesem Feld die höchste Kompetenz zutrauen: die Grünen. Diese Partei wäre denn auch die größte Gewinnerin eines Familienwahlrechts, das hat unsere Befragung deutlich gezeigt.
Nochmal: Das ist vor allem ein Gedankenexperiment. Es zeigt: Wären die Interessen junger Menschen stärker sichtbar rund um Wahlen, würden diese vielleicht etwas anders ausgehen. Wer wählen darf und wer nicht, ist eben nicht egal. Ein Elternwahlrecht halte ich dabei zwar nicht für die beste Lösung, um die Interessen junger Menschen stärker sichtbar werden zu lassen. Aber das Verhältnis von Demografie und Demokratie bleibt trotzdem eine Herausforderung, der wir uns stellen müssen.

Thorsten Faas, geboren 1975 in Idar-Oberstein, ist Professor für Politische Soziologie an der Freien Universität Berlin. Er sitzt im Vorstand der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft und ist Präsidiumsmitglied der Gesellschaft für Wahlforschung.

Thorsten Faas, Politikwissenschaftler an der FU Berlin.
© picture alliance / dpa / privat / Thorsten Faas
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