Jugendliche Proteste

Das Wahlalter bitte nicht senken!

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Zahlreiche Demonstrantinnen und Demonstranten gehen durch die Straßen und halten ein Transparent vor sich.
Fridays for Future: In Hamburg bekamen die jungen Demonstranten zuletzt Besuch von der 16-jährigen schwedischen Aktivistin Greta Thunberg. © imago
Ein Standpunkt von Alexander Kissler · 07.03.2019
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Jugendliche demonstrieren für Klimaschutz: Viele Politiker klatschen Beifall, manche fordern ein niedrigeres Wahlalter. Bitte nicht, warnt der Publizist Alexander Kissler, denn man dürfe Heranwachsende nicht zu früh in zu große Schuhe stecken.
Bei Kant, Goethe und in der Bibel findet sich, klassisch vorformuliert, was den Menschen vor allen anderen Lebewesen auszeichnen soll: seine Vernunft. Für Kant war Vernunft das menschliche Erkenntnisvermögen und damit die Fähigkeit, zu urteilen und zu schließen, abzuleiten und das Unbedingte zu suchen.
Der Königsberger schrieb: "Alle unsere Erkenntnis hebt von den Sinnen an, geht von da zum Verstande und endigt bei der Vernunft, über welche nichts Höheres in uns angetroffen wird." In uns: Das meint den erwachsenen, reifen Menschen.

Der Mensch kommt nicht reif zur Welt

Goethe setzte die menschliche Vernunft der tierischen Unvernunft entgegen, wenn er seinen Teufel im "Faust" den Menschen anklagen lässt: "Er nennt's Vernunft und braucht's allein, nur tierischer als jedes Tier zu sein." Vernunft, heißt das, macht den Homo sapiens nicht unbedingt vernünftig, nicht edel, nicht rational.
Und im Neuen Testament markiert der Apostel Paulus eine weitere Grenze des Vernünftigen: "Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind, urteilte wie ein Kind; als ich ein Mann wurde, tat ich weg, was kindlich war."
Der Mensch entwickelt sich demnach empor. Er reift und kommt nicht reif zur Welt. All das hat heute seine Überzeugungskraft weitgehend eingebüßt. Grenzen der Gattung werden ebenso wenig angenommen wie Grenzen der Generationen.

Heute gelten Maschinen und Tiere als denkfähig

Vernunft, sagt der Philosoph Markus Gabriel im Einklang mit der Mehrheit seiner Fachkollegen, Vernunft ist nicht auf den Menschen beschränkt. Erkenntnisse können mittlerweile auch Maschinen haben – und das Denken sei noch nie ein Vorrecht des Menschen gewesen.
In seinem Buch "Der Sinn des Denkens" schreibt Markus Gabriel: "Das Denken ist kein Privileg des Menschen. ... Ein Schwein denkt etwa, dass es Futter erhalten wird. ... Es denkt sicherlich noch viele Gedanken mehr, von denen wir keine Ahnung haben, da im Schweineleben andere Wegmarken wichtig sind."
Schweine denken, Maschinen haben Erkenntnisse – und Kinder sind mit derselben Vernunft gesegnet wie Erwachsene. Die antipaulinische Revolte hat gesiegt.
Wer je gesehen hat, wie Eltern in der Öffentlichkeit ihren Kindern auch komplexeste Entscheidungen überlassen und sie so von einer Überforderung in die nächste treiben, sich selbst aber von der einen Nervenzerreissprobe in die nächste, der ahnt: Kinder gelten als kleine Erwachsene. Jugendliche sollen Lehrende sein, nicht Lernende. Teenager erhalten die Weihen der Spontanvernunft.

Warum sind Jugendliche nur begrenzt strafmündig?

Seltsamerweise kennt jedoch das deutsche Jugendstrafrecht den Begriff der Strafmündigkeit. Vor dem Gesetz wird sehr genau beachtet, wie alt ein Verdächtiger zum Zeitpunkt der ihm zur Last gelegten Tat war – und das ist gut so. Erst mit Vollendung des 21. Lebensjahres wird das Erwachsenenstrafrecht angewandt. Davor ist man Kind, Jugendlicher oder Heranwachsender.
In weiten Teilen von Gesellschaft und Politik wird diese lebenskluge Unterscheidung nicht akzeptiert. Da gilt der junge Mensch als mit besonderer Vernunft begabt und Widerspruch als unstatthaft. Das kindliche Orakel will ständig befragt sein.
Der Heranwachsende ist aber keineswegs der erwachsene Mensch. Wer sich für eine aufgeklärte Gesellschaft mündiger Bürger ausspricht, der sollte sich vom Strafrecht inspirieren lassen und das Wahlalter eher herauf- als herabsetzen. Und der sollte aufhören, Jugendlichen und Kindern das Recht auf ihr persönliches, eigenständiges Reifen zu nehmen.
Wer zu früh in zu große Schuhe gesteckt wird, der stolpert.

Alexander Kissler, ist Kulturjournalist und Sachbuchautor. Er schrieb regelmäßig für die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung", war Redakteur der "Süddeutschen Zeitung" und anschließend beim "Focus Magazin". Seit 2013 leitet er das Kulturressort "Salon" des Monatsmagazins "Cicero". Jüngstes Buch: "Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss." (Gütersloher Verlagshaus 2019)

Porträt von Alexander Kissler
© Antje Berghaeuser
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