Vor 25 Jahren: Auf dem Weg zur Einheit

"Eine Zeit extremster Beschleunigung"

Wolfgang Thierse
Wolfgang Thierse erinnert sich, wie vor 25 Jahren Lothar de Maizière zum DDR-Ministerpräsidenten gewählt wurde. © Imago/Future Image/Gabsch
Wolfgang Thierse im Gespräch mit Ute Welty |
Die einzige frei gewählte Regierung der DDR war 1990 nur sieben Monate im Amt. Alle Überlegungen einer schrittweisen deutschen Einheit wurden "ganz schnell obsolet", erinnert sich Wolfgang Thierse, damals Chef der SPD-Fraktion in der Volkskammer.
Wolfgang Thierse (SPD), Ex-Bundestagspräsident und ehemaliger Fraktionschef der SPD der DDR in der ersten frei gewählten Volkskammer, hat die Arbeit der letzten und zugleich einzig demokratisch gewählten DDR-Regierung für ihre Umsetzung des Wählerwillens zur deutschen Einheit gewürdigt.
Regieren im permanenten Ausnahmezustand
"Der Traum, in einem freien Parlament das freie Wort zu führen ist in Erfüllung gegangen", erinnerte sich Thierse im Deutschlandradio Kultur an den Moment, als am 12. April 1990 die Abgeordneten der Volkskammer die Koalitionsregierung mit Lothar de Maizière als Ministerpräsidenten an der Spitze bestätigte.
Lothar de Maizière (l, CDU) nimmt nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten der DDR in der Ost-Berliner Volkskammer die Glückwünsche von Außenminister Markus Meckel (r, SPD) entgegen. Am 12. April 1990 wurde die erste frei gewählte Regierung der DDR vereidigt. Dem Kabinett gehören 23 Mitglieder der Koalition aus Allianz, SPD ind Liberalen an.
Lothar de Maizière (l, CDU) nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten der DDR © picture alliance / dpa / Wolfgang Kumm
Die folgenden 199 Tage dieser Großen Koalition seien eine Zeit "der extremsten Beschleunigung" gewesen, gekennzeichnet von intensivsten Diskussionen und großem Fleiß in der Umsetzung des Hauptziels des Wählerwillens der deutschen Vereinigung. Die Parlamentsarbeit in der erstmals frei gewählten Volkskammer sei von einem "temporeichen learning by doing" und einem permanenten Ausnahmezustand gekennzeichnet gewesen: "Es war nichts normal. Es war alles, alles neu", erinnerte sich Thierse, der damals als Abgeordneter der Volkskammer angehörte, zunächst als SPD-Vize-Fraktionschef und ab August 1990 als SPD-Fraktionschef.
"Wir waren ein verdammt fleißiges Parlament"
Es galt, die entscheidenden Weichen für den Beitritt zur Bundesrepublik zu stellen: Zur Wirtschaft-, Währungs- und Sozialunion, Fragen der Überführung von Ost-Recht in West-Recht, den Einigungsvertrag selbst, die Entscheidung zur Öffnung der Stasi-Akten, die Entscheidung zur Überführung einer Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft, zog Thierse Bilanz der parlamentarischen Arbeit. "Es war fast abenteuerlich viel, was wir zu diskutieren und entscheiden hatten. Im Rückblick ist mir manchmal regelrecht schwindlig geworden. Wir waren ein verdammt fleißiges Parlament."
Alle ursprünglichen Überlegungen einer schrittweisen Einführung der Einheit – "in einem vernünftigen Prozess wesentlich länger gestreckt" über einen Zeitraum von zwei bis vier Jahren, seien durch den Tempodruck unterschiedlichster "Faktoren der Beschleunigung" nicht mehr zu halten gewesen, erklärte Thierse. Dazu zählten der Wunsch Bevölkerung nach sofortiger Einführung der D-Mark und das sichtbar Werden des Zusammenbruchs der DDR-Wirtschaft, sowie außenpolitische Ungewissheit.
Schiefe Konstellation zwischen Ost und West
Kritik an der Dominanz der westdeutschen Politik wies Thierse zurück. "Im Westen musste sich nichts ändern, im Osten musste sich alles ändern. Das war eine schiefe Konstellation, aber daraus kann ich keinen moralischen Vorwurf ableiten." Dies habe sich aus der Konstellation des Zusammentreffens eines "gescheiterten" Gemeinwesens wie der DDR mit einem "erfolgreichen Gemeinwesen" wie der Bundesrepublik ergeben. Als Fehler bezeichnete Thierse aber, dass die Bundesrepublik im Prozess der deutschen Einheit keinen Anlass gesehen habe, im Westen selbst etwas zu verändern, sondern diesen Prozess lediglich als Bestätigung ihres eigenen Status quo gesehen habe. "Das bleibt ein Schmerz", bedauerte Thierse.
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Das vollständige Interview im Wortlaut:
O-Ton Kohl: Mein Ziel bleibt die Einheit unserer Nation!
O-Ton Lothar de Maizière: Die wichtigste Frage ist für uns, dass uns die Menschen nicht weiter verlassen. Und da wird dies Wahlergebnis vielleicht ein Signal sein können, aber ich denke, dass die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion der nächste, wichtige und eindeutige Schritt sein muss.
Sprecherin: Vor 25 Jahren. Auf dem Weg zur Einheit.
Ute Welty: Die Stimme ist unverkennbar – Lothar de Maizière schreibt als erster demokratisch gewählter Ministerpräsident der DDR Geschichte, und als deren letzter Ministerpräsident beendet er diese Geschichte dann auch. Gewählt wird Lothar de Maizière am 12. April 1990 von den Abgeordneten der Volkskammer, und zu denen zählt auch dieser Mann hier, mit mindestens ebenso unverkennbarer Stimme.
O-Ton: Wolfgang Thierse: Auch in einer großen Koalition wird die SPD also kenntlich bleiben. Dafür wird die Fraktion, für die ich hier spreche, schon sorgen. Kenntlich bleiben als eine linke Volkspartei in der frischen Tradition des Herbstes 1989. Denn, liebe Freunde vom Bündnis 90, gegen einen latenten Monopolanspruch auf diesen Herbst sei es gesagt: Auch wir, die SPD, auch wir waren dabei, vielleicht weniger prominent, weniger sichtbar, weniger laut, aber doch mit gleichem heißem Herzen, gleicher politischer Leidenschaft und dem gleichen elementaren Erlebnis von Befreiung.
Welty: Guten Morgen, Wolfgang Thierse!
Wolfgang Thierse: Guten Morgen!
Welty: Mit der Übernahme des Mandats für die Volkskammer beginnt für Sie fast ein Vierteljahrhundert sozialdemokratische Parlamentsarbeit bis hin zum Bundestagspräsidenten. An jenem 12. April '90 waren Sie Vize der SPD-Volkskammerfraktion, und man hört Ihnen an, wie wichtig Ihnen dieser Tag ist. Was hat er Ihnen genau bedeutet?
Thierse: Ja, ich war zum ersten Mal in meinem Leben Parlamentarier. Ein Traum, den ich von Kindesbeinen hatte, freie Rede in einem Parlament, das freie Wort zu führen, ist in Erfüllung gegangen. Und dann beteiligt zu sein an diesem wichtigen, anstrengenden, herausfordernden Prozess der deutschen Vereinigung – darum ging es ja, denn das war ja der Wählerauftrag vom 18. März, die deutsche Einheit herstellen, das wollten die meisten Wähler, und die gemeinsame Koalition auf CDU, SPD und den liberalen hat diesen Auftrag ja ernst genommen und darum ging es ganz wesentlich in der Debatte um die Regierungserklärung.
Welty: Im Zuge dieses Wählerauftrags – gab es eigentlich damals so etwas wie normalen Politikeralltag, oder war es im Grunde genommen immer eine Art Ausnahmezustand, weil alles so neu war?
Thierse: Es war nichts normal. Es war alles, alles neu. Wir waren doch alle Anfänger. Vielleicht bei der Linkspartei, ehemals SED, bei der PDS waren schon welche vorher in der Volkskammer, aber das ist ja nicht vergleichbar. Es war eine Zeit extremster Beschleunigung, alles gleichzeitig: Parlamentsarbeit lernen, sich in juristische Fragen einarbeiten höchst unterschiedlicher Art, den Überblick gewinnen über das, was alles zu regeln ist, sich beraten lassen und eine vernünftige Meinung zu bilden, innerhalb der eigenen Fraktion energisch, leidenschaftlich, ausdauernd diskutieren und dann doch zu Mehrheitsentscheidungen zu kommen, auf die Vorschläge aus der Regierung zu reagieren, mit westdeutschen Beratern, mit westdeutschen Politikern zu reden, der Ungeduld der eigenen Bevölkerung sich ausgesetzt sehen – alles gleichzeitig. Auch im Rückblick erinnere ich mich daran, manchmal ist mir regelrecht schwindelig geworden.
Welty: Und Sie haben abends auf dem Sofa gesessen und haben gesagt: Pfft!
Thierse: Ja, wenn man überhaupt dazu kam, sich aufs Sofa zu setzen. Wie gesagt, mir ist manchmal regelrecht schwindelig geworden. Alles gleichzeitig. Aber das war eben im besten Sinne des Wortes ein temporeiches Learning-by-Doing, wie man das auf Neuhochdeutsch sagt.
Welty: Was waren Ihre Vorstellungen von der politischen Zukunft des Landes?
Thierse: Also zunächst mal, klar war, wir wollen die deutsche Einheit, aber wir wollten sie in einem vernünftigen Prozess, zeitlich viel länger gestreckt, als es dann Wirklichkeit wurde, durch klar geregelte Vereinbarungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland auf den verschiedensten Feldern. Das war die Idee. Ich erinnere mich genau, wie wir zusammengesessen haben und gesagt haben, das könnte so ein Prozess zwischen zwei und vier Jahren sein, wo man nacheinander Regelungen zur wirtschaftlichen Vereinigung, zur sozialen Vereinigung, zur rechtlichen Vereinigung trifft, außenpolitische Verhandlungen dabei eingebettet. Das ging dann alles viel, viel schneller. Der Tempodruck ist von unterschiedlicher Seite gekommen: der Ungeduld der eigenen Bevölkerung – kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, dann gehen wir zu ihr. Und der faktische, sichtbar werdende Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft. Und dann die außenpolitische Ungewissheit: Wie lange wird es das zunächst leise oder halblaute Ja von Gorbatschow zur deutschen Einheit geben? Das waren unterschiedliche Faktoren der Beschleunigung, sodass alle Überlegungen, die ja an verschiedenen Stellen angestellt worden sind, die deutsche Einigung Schritt für Schritt in Angriff zu nehmen, ganz schnell obsolet wurden.
Welty: Geblieben sind dann ja am Ende 199 Tage. Was hat man geschafft in dieser Zeit, was haben Sie geschafft?
Thierse: Also ich glaube, wir waren ein verdammt fleißiges Parlament. Wir haben so viel zu regeln gehabt. Ich nenne nur die großen Herausforderungen: die Vereinbarungen zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion; die vielen Fragen der Überführung von Ost-Recht in West-Recht; der Einigungsvertrag selber; die Entscheidung zur Öffnung der Stasi-Akten; die Überlegung, die Entscheidung zur Übertragen sozusagen einer Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft, also Eigentumsfragen, viele andere Dinge – es war fast abenteuerlich viel, was wir zu diskutieren und zu entscheiden hatten.
Welty: Die Wiedervereinigung ist ja auch skeptisch begleitet worden. So spricht der Bürgerrechtler Jens Reich von einem Bonner Nilpferd, das mit einer Massivität ankam, dass man einfach hilflos war. Teilen Sie diese Einschätzung?
Thierse: Natürlich waren die Gewichts- und Größenverhältnisse klar. Aber wem will ich das vorwerfen. Wenn ein erfolgreiches Gemeinwesen wie die Bundesrepublik und ein gescheitertes wie die DDR zusammenkommen, dann sind die Gewichte auch klar, noch über die Größenverhältnisse hinaus. Im Westen musste sich nichts ändern, im Osten musste sich alles ändern. Das war eine schiefe Konstellation, aber daraus kann man doch keinen moralischen Vorwurf ableiten. Dass darin auch noch Fehler gemacht worden sind, dass die Bundesrepublik Deutschland die deutsche Einheit gewissermaßen zur Bestätigung ihres Status quo genommen hat und überhaupt keinerlei Anlass gesehen hat, in diesem Prozess selber im Westen etwas zu verändern, das bleibt ein Schmerz, aber so ist der geschichtliche Ablauf der Beschleunigung gewesen.
Welty: Was war Ihre Vorstellung von Ihrer politischen Zukunft damals? Bundestagspräsident? Zweiter Mann im Staat nach dem Bundespräsidenten?
Thierse: Nein. Entschuldigen Sie, ich war in die Politik geraten und gegangen, erstens, weil ich politische Leidenschaft habe und weil ich mich beteiligen wollte an diesem Prozess der deutschen Einigung und mit Leidenschaft dafür eintreten wollte, dass wir Ostdeutsche eine Chance auf Gleichberechtigung haben, dass wir nicht untergebuttert werden. Also, ich habe mich schon, damals und in den Jahren im Bundestag verstanden als im besten Sinne des Wortes als einen Interessenvertreter der ostdeutschen, des kleineren, des schwächeren Teils der Deutschen. Da hab ich nicht an eigene Karriere gedacht. So viel Phantasie hatte ich nicht. Man war ja mit dem Tag beschäftigt, mit der Lösung von Problemen und immer neuen Anforderungen. Und im Übrigen hatte ich mir ja Karrieredenken schon in der DDR längst abgewöhnt.
Welty: Am 12. April 1990 wählt die Volkskammer der DDR zum ersten und zum letzten Mal demokratisch den Ministerpräsidenten. Mit dabei damals der Sozialdemokrat Wolfgang Thierse. Herzlichen Dank für diesen gemeinsamen Rückblick!
Thierse: Auf Wiederhören, machen Sie's gut!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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