Von schelmisch bis unterkühlt

Von Sigried Wesener |
Sieben verschiedene literarische Stimmen waren am Freitag bei den 29. Tagen der deutschsprachigen Literatur zu hören. Es lasen unter anderen der Schweizer Christoph Simon und die Berlinerin Barbara Bongartz. Die Stimmungslagen reichten dabei von schelmisch bis unterkühlt.
Heute konzentrierte sich der Auftritt der drei alpenländischen Autoren. Den Auftakt bestritt der 33-jährige Christoph Simon, der einzige Schweizer beim Wettlesen. Simon – bislang mit einem Schelmenroman hervorgetreten – versuchte sich erneut in diesem Genre. Seine Hauptfigur, ein Desperado, Freigänger aus den Berner Nervenheilanstalten, zieht mit einem Dachs durch die Straßen und würde gern Sandhaufenumschaufler sein. Die Schweizer Enge, die verpasste Liebe hält ihn gefangen.

Großes komisches Potenzial bescheinigten die Juroren einhellig, allerdings konnte die Ziellosigkeit, die Unschlüssigkeit des Textes nicht überzeugen. Die Summe ist weniger als die einzelnen Szenen, befand Ursula März, gut gemachter, aber kleiner Text – sorgte sich Norbert Miller grundsätzlich und Iris Radisch schmetterte in die Runde: „Der Dachs ist eher ein Dackel.“

Nach heiterem Schweizer Auftakt begab sich die Wahl-Leipzigerin Martina Hefter auf eine Zugfahrt von Leipzig an die Ostsee. Während der Reise richtet die Erzählerin ihren Blick auf eine Kindergruppe, ruft Erinnerungsbilder ihrer eigener Kindheit auf. Einen Text zu kennen, bedeutet ja noch nicht, alles über ihn zu wissen. Martina Hefters Lesung forderte die Juroren heraus, hat – so Burghard Spinnen – ihm das meiste abverlangt. Zwischen: „die Schärfe, die Radikalität fehlen“ und „fein beobachteter Wahrnehmungstext, der Alltäglichkeit durchsichtig macht“ – schwankte die Kritik und wandte sich Gerhild Steinbuch zu, die die zweite Halbzeit des Lesemarathons eröffnete.

Der Auftritt der ersten österreichischen Autorin war von den Gastgebern lang ersehnt. Die Grazerin, die einmal mehr die lang kultivierte Kluft zwischen der Autorenversammlung und Klagenfurt überspringen konnte, ist 22-jährig und kann Inszenierungen eines Stückes beim Steirischen Herbst, an der Schaubühne Berlin und in der Werkstatt des Wiener Burgtheaters aufweisen. Die Autorin unterbrach die Realismus gesättigten literarischen Welten und beschreibt eine Ausnahmesituation zwischen Missbrauch und Wahnsinn. Im Mittelpunkt ein Junge, der sich als schuldig in der verkorksten Dreiecksbeziehung zu den Eltern empfindet. Man habe ja noch ein bisschen Zeit für sein Urteil riet Daniela Strigl, die das Prosagedicht der Autorin gegen die Kritik ihrer Kollegen verteidigte.

Barbara Bongartz – schon lange als Geheimtipp in der deutschen Literatur nutzte den Wettbewerb als Möglichkeit, aus dem Kultstatus herauszukommen. Unter dem Titel „Karpfen grün“ bereitete sie eine Speisefolge „als Symbol für einen Familienzustand“. In ihrem Menü, in dem die Speisen gegen alle Rezeptanweisung und Kochkunst zugerichtet werden, bricht die Grausamkeit in einer scheinbar friedlichen Familie auf.

Der Text, der Karpfen, lag den Juroren im Magen und Martin Ebel forderte schließlich „mehr Fleisch“. Burkhard Spinnen vermutete gar eine Attacke auf die englische Romanliteratur des 19. Jahrhundert und ließ vieles mit Fragezeichen offen. „Dass wir den Text nicht verstehen, halten wir ihm zugute“ – wehrte sich Iris Radisch. Zeit für die Mittagspause und neue, gespannte Erwartung wandte
sich am Nachmittag Anne Weber zu: Euphorische Kritiken für die bisherigen vier Bücher, ein 1. Platz auf der Belletristik-Bestenliste, den Suhrkamp Verlag im Rücken – steigerten die Aufmerksamkeit für ihre Lesung.

Anne Weber las einen Auszug aus „Gold im Mund“, einen Text, der in ein Schweizer Großraumbüro entführt und staunende Fragen stellt über den Zustand der Welt. „Das ist Wein“, freute sich Heinrich Detering, „auf erwachsene Weise kindlich, nicht putzig.“ Mit Erkenntnissen wie „Revolution bedeutet Drehung um 360 Grad, nie ist eine 180 Grad-Wende gelungen“, frappierte die Autorin. Anne Webers poetischer Essay erhielt zunächst viel Zustimmung und zog dennoch Einwände auf sich, durch seine unterkühlte Sprache und durch Unentschiedenheit aber auch die Juroren blieben unentschieden. „Gold im Mund“ von Anne Weber erscheint im Sommer als Buch.

Szenenwechsel aus dem Großraumbüro in Anna Kims Bilder-„Archiv“. Die in Südkorea geborene und in Wien lebende Autorin tastet auf dem Hintergrund ihrer anderen Sozialisation die Worte fragend ab. Der Text schildert eine Geschwisterbeziehung. Mit einem Fotoapparat dokumentiert die Schwester die schwere Krankheit des Bruders bis zum Tod. Die Bilder sind noch nicht sortiert, deshalb will sie den Tod des Bruders nicht annehmen. Ein komponierter Text, der die Geschichte rückwärts laufen lässt, „Erinnerungen halten nur bis zum nächsten Tag“. Die kritischen Kommentare zum Text überwogen.

Der Versuchsanordnung über ein Leben ohne Gedächtnis folgte ein Versuch über „Passau“ von Klaus Böldl, der den heutigen Lesetag in Klagenfurt abschloss. Der Erzähler spürt aufgestaute Vergangenheit, überall. Der Kindheitsstadtteil wirkt wie eine übrig gebliebene Freilichtkulisse. Biederkeit, Betulichkeit attestierten die Juroren, vor allem die „Überraschung“ fehlte in dieser persönlichen Chronik. Klaus Böldls Text konnte nicht überzeugen

14 Autorinnen und Autoren haben nunmehr literarische Prosa in Klagenfurt vorgestellt. Wenn am Samstagvormittag die drei abschließenden Teilnehmer ihre Texte in diesen Wettbewerb einbringen, wird sich sicher schon genauer abzeichnen, wer zu den großen Favoriten zählt für einen der fünf Preise, die bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur vergeben werden. Herausgehoben aus diesen Ehrungen: der Ingeborg-Bachmann-Preis. Am Sonntagmittag wird der Name vom Wörthersee aus in die literarische Welt strahlen. Warten wir also den Sonntag ab.

Service:

Die Autoren Natalie Balkow, Klaus Böldl, Barbara Bongartz, Martina Hefter, Susanne Heinrich, Anna Kim, Helmut Kuhn, Thomas Lang, Kristof Magnusson, Sabine Schiffner, Eva von Schirach, Julia Schoch, Christoph Simon, Sasa Stanisic, Gerhild Steinbuch, Nikolai Vogel und Anna Weber stellen bei den 29. Tagen der deutschsprachigen Literatur vom 23. bis 25. Juni 2005 ihre Texte vor. Am Sonntag, dem 26. Juni, werden die Preise verliehen.

Interne Links:

Beiträge – Lesemarathon in Klagenfurt, der erste Tag

Externer Link:

Ingeborg-Bachmann-Preis 2005
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