Volksbühnen-Epigonentum und Taboris Todes-Groteske

Von Dina Netz |
Castorf und Pollesch winken freundlich aus Berlin: „Zerschossene Träume“ ist ein Spiel um Geschlechter und Identitäten – inklusive Thilo Sarrazin, der von einer Frau gespielt wird. Mit „Abendschau“ gelangt in Recklinghausen der wohl letzte letzte noch unbekannte Text von George Tabori zur Aufführung.
Rätselhafte Figuren treten in „Zerschossene Träume“ von Wolfram Lotz und Martin Laberenz auf, zum Beispiel Thilo Sarrazin, gespielt von einer jungen Frau, der den umstrittenen Bestseller „Das kontrasexuelle Geschlecht“ geschrieben hat, in dem er das Arschloch als eigentliches Lustzentrum postuliert. Oder der erste Schimpanse, der in den Weltraum flog, Ham, und sein junger Ausbilder Jeffrey Schaefer. Allerdings spielt beide in Recklinghausen Benjamin Lillie, und das stellt ihn vor gravierende Probleme, denn wann ist er Jeffrey, wann Ham? Und wann am Ende er selbst? Und „was soll das sein, ich selbst“?

Fragen nach Identität, speziell der Geschlechter, werden in „Zerschossene Träume“ immer wieder umkreist. Der Ton ist humorvoll, ruhig auch mal albern oder derb. Die theaterwissenschaftlichen Überlegungen nach Darsteller und Rolle sind allerdings ziemlich banal und unoriginell, Castorf und Pollesch winken freundlich aus Berlin. Als die Schauspieler später in einem Kasten verschwinden und ihr Tun per Kamera nach außen übertragen wird, nimmt das Volksbühnen-Epigonentum dann überhand.

Witziger ist die Persiflage auf die Schauspielerin Lindsay Lohan, die einen Anruf von einem Filmproduzenten bekommt und die Hauptrolle in einem Film über ihr eigenes Leben spielen soll. Lohan wird – natürlich – von einem Mann gespielt (Günther Harder), und alle zusammen spielen diese Sequenz immer und immer wieder, diskutieren wie in der Theater-AG, welche Herangehensweise nun die richtige sei.

Die Dramaturgie von „Zerschossene Träume“ stimmt, die Texte verbinden geschickt philosophische Betrachtungen mit situativem Witz. Und ganz wesentlich tragen die Schauspieler dazu bei, dass der Abend nicht an Spannung verliert, denn alle sechs spielen rasant und mit sichtlichem Spaß.

Auch Fridolin, die Hauptfigur in George Taboris „Abendschau“, stellt sich viele Fragen, aber weniger über seine Identität als über sein Leben, denn das rinnt ihm aus den Fingern. Der amerikanische Jude ist leidenschaftlicher Hypochonder, aber jetzt steht tatsächlich eine Operation an. Um seine Ehe steht es nicht zum Besten, er hat seine Frau „in den 60ern mal für fünf Minuten“ geliebt. Fridolin ist Entertainer, dessen Witze keiner mehr hören will (sein Produzent findet seine jüngste Show „witzig wie einen Zementblock"). Sein Sohn bringt bedrohliche Monster mit nach Hause, und der dreibeinige Hund fühlt sich verkannt. Ständig latscht der Tod in anderer Gestalt durchs Stück – „Abendschau“ ist eine Groteske über den Tod.

George Tabori wollte den Text eigentlich 1979 zur Uraufführung bringen, aber dann starb – furchtbare Ironie des Schicksals – einer der Darsteller. Der Intendant des Berliner Ensembles, Claus Peymann, erzählte Ruhrfestspielleiter Frank Hoffmann von dem Stück, der sich von der Verlegerin die Rechte geben ließ. Und so erlebte der vermutlich letzte noch unbekannte Text von George Tabori in Recklinghausen seine Uraufführung.

Frank Hoffmann hat auch Regie geführt, und er hätte dem Affen ruhig etwas weniger Zucker geben können: Es wird laut und überdeutlich gesprochen, viel gerannt und mit Musik unterlegt. Dabei geht es in Tabori-Texten doch immer um die Zwischentöne, das Ungesagte zwischen den Zeilen. Bühnenbildner Karl Kneidl hat das aufgegriffen, indem er im Bühnenhintergrund einen Kofferberg aufgeschichtet hat – Sinnbild für das bewegte Leben der Familie, die offenbar im amerikanischen Exil lebt. Aber man assoziiert auch Konzentrationslager; sicher keine falsche Fährte beim ungarischen Juden Tabori, der selbst nach London und in die USA emigrierte.

Frank Hoffmann macht sich an Tabori nicht nur durch die Entdeckung des Textes verdient, sondern auch durch die Wahl der Schauspieler. Fast gehörte der Abend Fridolin, den Wolfram Koch mit großer Präsenz, Wandlungsfähigkeit und Witz spielt – wären da nicht die ebenfalls sehr engagierten anderen Darsteller wie zum Beispiel Jacqueline Macaulay als abgetakelte Ehefrau. Der „Abendschau“ ist jedenfalls zu wünschen, dass sie den Sprung in die Spielpläne schafft.

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