Talent für szenisches Schreiben

Von Hartmut Krug · 20.05.2012
Talent hat sie, und ihr Handwerk beherrscht sie auch: die Trägerin des Kleist-Förderpreises 2011, Marianna Salzmann. Mit ihrem im vergangenen Jahr ausgezeichneten Inzest-Stück rührt sie an ein altes Tabu - doch eine tiefere Durchdringung des Themas will ihr nicht gelingen.
Ein Junge, im Rucksack ein Album mit Jugendfotos und im Herzen die Sehnsucht nach (Er)Kenntnis, taucht bei seinem Großvater auf. Erst wehrt ihn dieser ab, dann gibt er indirekt zu, sein Großvater zu sein, und die beiden kommen sich näher. Das ist die eine Erzählebene in Marianna Salzmanns "Muttermale. Fenster. Blau." Die zweite legt eine Erinnerungsspur, so vage wie deutlich: Ein alter Mann und eine junge Frau in Beziehungsgesprächen. Er vorsichtig sehnsüchtig, zurückhaltend, sie zupackender, aber ebenso unsicher. Die Annoncen eintreibende PR-Beraterin und der mittellose Maler werden nicht nur ein Paar, sondern scheinen auch Vater und Tochter. Die malt die Fenster schwarz, oder wie im Titel, blau an, um den gemeinsamen Raum abzuschirmen. Und ja, wir ahnen es bei diesen Rückblicken schrecklich schnell: Sie sind die Eltern des Jungen, der Großvater ist auch der unbekannte Vater.

Ein Tabuthema also: Inzest. Nicht mit Fritzl und mit Grauen, sondern irgendwie mit Liebe und Problemen. Nicht anklagend, feministisch oder grundsätzlich, sondern problembewusst, ungenau und nett. Natürlich soll ein Rest von Irritation, soll eine Offenheit bleiben, ob das alles wirklich so stimmt. Bleibt aber nicht, und warum auch. Denn was genau uns die Autorin erzählen will, warum sie dieses Thema gewählt hat, wird nie recht deutlich. Das Stück wirkt, als sei es ein Semesterauftrag für Szenisches Schreiben: Schreiben sie mal ein Stück mit vier Figuren in Beziehungsproblemen. Da gelebte Inzest-Liebe wohl verwirrend für die Beteiligten ist, wird die Frau als verwirrt beschrieben. Glaubt man ihrem Sohn, benimmt sie sich wie eine Nutte. Klar, so erfahren wir auf der anderen Erzähl- oder besser Denkebene, der Mann hat sie damals verlassen, das kann jede Sicherheit nehmen. Da hilft ihr auch die oftmalige Erklärung der Autorin nichts, das Herz sei ein kräftig gebauter Schließmuskel.

Marianna Salzmann, 1985 in Wolgograd geboren, ist in Moskau aufgewachsen und 1995 nach Deutschland gekommen. Schnell hat sie Preise bekommen und Uraufführungen ihrer Stücke erlebt. Auf dem Uraufführungsmarkt werden immer wieder Autoren neu ausgeguckt, die angesagt sein sollen und überall mit neuen Texten vorgestellt werden. Im Augenblick ist Marianna Salzmann an der Reihe. Allein in Berlin sind Stücke von ihr beim Theater Strahl und am Ballhaus Naunynstrasse zu sehen, gut konstruierte Arbeiten mit ausgedachten, aber nicht immer überzeugend ausgeführten Problemgeschichten. Zu Beginn der nächsten Spielzeit gelangt in der Box des Deutschen Theaters ein weiteres Stück von ihr auf die Bühne. Dieser schnelle Erfolg hat mit der Einfallslosigkeit der Theater, aber durchaus auch mit Salzmanns handwerklichem Geschick zu tun. Sie kann Szenen bauen, Situationen beschreiben, Figuren entwickeln. Auch ihrem neuen Stück merkt man an, wo und was sie studiert: nämlich in Berlin, Szenisches Schreiben an der Universität der Künste.

Was ihr in ihrem erstaunlicherweise 2011 mit dem Kleist-Förderpreis ausgezeichneten "Muttermale…"-Stück fehlt (was muss das für ein schwacher Jahrgang sein!), sind die tiefere Durchdringung ihres Themas, eine genauere Figurenpsychologie und eine Dramaturgie, die der in ihren Verrätselungs-Anspielungen festgezurrten Geschichte innere Spannung oder wenigstens äußere Dynamik gegen würde. Das Stück ist erst einmal nur ein beachtliches Stück Handwerk. Vier Personen, eine konstruierte, unklar sein wollende Geschichte und ein sogenanntes Tabuthema.

Textflächen gibt es bei Marianna Salzmann nicht, aber viel tiefere Bedeutung in atmosphärisch direkten Dialogen. Die Sprache ist zuweilen grammatikalisch zum eigenen überzeugenden Sound verknappt. Dazu genaue Szenenanweisungen für realistisches Spiel, die Uraufführungsregisseurin Carina Riedl (Jahrgang 1983) allerdings ignoriert. Spielfläche ist bei ihr ein langgezogenes Bühnenpodest mit einem Spiegel im Hintergrund. Durchsichtige Tücher, in Staffelung gehängt, trennen die Spielebenen, bis sie nacheinander nieder gerissen werden und die Personen aus Vergangenheit und Gegenwart zusammen kommen.

Statt wie von der Autorin vorgesehen vier gibt es in dieser Uraufführung nur drei Schauspieler - ein Darsteller spielt den Vater-Großvater in alten wie jungen Jahren. Ronald Funke stellt ihn als wortkarges Klischee unter seiner Wollmütze auf die Bühne. Er ringt sich kaum Bewegung ab, ist der abwehrende einsame Wolf, gegen den Michael Brandt (geb. 1990) als Sohn-Enkel mit Sprayzeichen und drängendem Trotz anrennt.

Lisa Schlegel bewältigt als Tochter-Mutter den schwierigen Part einer Figur zwischen Angst und Sehnsucht, Wut und Lust mit spielerischer Lebendigkeit. Die Ausgedachtheit ihrer Figur aber vermag auch sie nicht weg zu spielen. Außerdem wird sie von der Regisseurin zu einigen albernen Körperverschlingungen mit dem Mann angehalten, während sich die Inszenierung sonst weitgehend mit bravem Standbein/Spielbein-Wechsel begnügt.

Was dem Text fehlt, nämlich Dynamik und Bewegung, das sucht die arg biedere Inszenierung vergeblich mit Bedeutungsmusik, Gitarrenriffs und Lichtwechseln zu liefern. Auch nur anderthalb Stunden Theater können lang werden, selbst wenn Pfauen und Hähne aus dem Park noch so eifrig versuchen, Leben ins ruhige Spiel im bei weitem nicht ausverkauften Theaterzelt zu bringen.


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