Ein starker Auftritt mit einer Selbstinszenierung

Regisseur Patrice Chéreau
Regisseur Patrice Chéreau © picture alliance / dpa
Von Ulrich Fischer · 19.05.2012
Die "fernen Tage" des russischen Theaters und seine "Zukunft" sind das große Thema der Ruhrfestspiele in diesem Jahr. Patrice Chéreau las dabei mit dem "Großinquisitor" einen russischen Text und machte seinen Auftritt zu einem europäischen Abend.
"Im Osten was Neues: Von den fernen Tagen des russischen Theaters in die Zukunft" – dieses etwas holprige Motto haben sich die Ruhrfestspiele in Recklinghausen gegeben. Entsprechend präsentierten die Festspiele zum Auftakt einen russischen Klassiker: Gogols "Revisor" in der Inszenierung von Festivalchef Frank Hoffmann.

Sebastian Hartmann aus Leipzig bearbeitete Tolstois "Krieg und Frieden" für die Bühne, jetzt war Dostojewskij dran: "Der Großinquisitor" – jene "Phantasie" aus den "Brüdern Karamasow", die so viele Reaktionen in der Philosophie und Literatur provozierte, war für das Große Haus angekündigt, mit Patrice Chéreau.

Chéreau, spätestens seit seinem "Jahrhundertring" ein französischer Theatermann von europäischem Format, inszenierte sich selbst, er trat selbst und allein auf. Auf der riesigen Bühne im Großen Haus stehen nur zwei schwarze Tische und drei schwarze Stühle – nichts soll vom Text ablenken. Chéreau tritt von hinten auf, er trägt Alltagskleidung: ein dunkles Jackett, schwarzes Hemd, der Kragen offen. Chéreau ist etwas gedrungen, wirkt athletisch, das Haar schimmert silbern. In der Linken trägt er ein Manuskript, in das er mitunter hineinblickt:

Die Handlung spielt in Sevilla in der furchtbarsten Zeit der Inquisition, als täglich zum höheren Ruhme Gottes Scheiterhaufen loderten, Priester Ketzer verbrennen ließen.

Chéreau ist der Erzähler, nur ganz selten nähert er sich der Figur des Großinquisitors. Auf Französisch hört sich die Geschichte, die Dostojewskij in "Die Brüder Karamasow" einflicht, noch klarer, luzider an, als auf Deutsch. Jesus ist zurückgekehrt, das Volk erkennt ihn, als er durch Sevilla wandelt. Der Großinquisitor wird aufmerksam, lässt Jesus festnehmen und besucht ihn in seinem Kerker.

Der Großinquisitor wirft Jesus vor, er störe. Wenn er nicht gehe, werde er ihn am nächsten Tag verbrennen lassen. Dann folgen schwere Anklagen des Kirchenfürsten gegen seinen Heiland: Jesus habe die Menschen überfordert mit seinem Konzept der Freiheit. Die Menschen seien schwach, sündig, sie wollten Führung und sehnten sich nach Unterwerfung: "Du hast sie emporgehoben", heißt es bei Dostojewskij, "und sie dadurch gelehrt, stolz zu sein; wir werden ihnen beweisen, dass sie schwach, dass sie nur armselige Kinder sind… Sie werden schüchtern werden und zu uns aufblicken und sich ängstlich an uns drücken wie die Küchlein an die Henne."

Der Großinquisitor schaut hochmütig auf die einfachen Menschen hinab, er wähnt, er selbst und seinesgleichen ständen weit über ihnen. Er darf alles, auch die Herde belügen. Er glaubt nicht an das ewige Leben für einfache Menschen – aber er erzählt ihnen die Geschichte, um ihnen die Angst vor dem Tod zu nehmen. Der Großinquisitor vertritt das Konzept von der Elite und den gemeinen Menschen, von Führer und Gefolgschaft.

Der alte Kirchenfürst strebt mit den Seinen nach der universellen Macht über die Welt. Er spricht offen: er folgt nicht mehr Jesus, er folgt dem Widersacher – sein Vorbild, so bekennt der Großinquisitor unmissverständlich, sei "Satan".

Chéreau spricht mit gehaltenem Pathos, er legt, ganz in der französischen Tradition, größte Achtung vor dem Wort an den Tag. Seine Gesten unterstreichen den Sinn, heben wichtige Worte, Begriffe hervor. Das Tempo ermöglicht eine große Übersicht, und lässt gleichzeitig nie die Spannung erschlaffen. Der deutsche Text wird auf eine vom Portalherabhängende Tafel projiziert – mitunter hinkt die Übersetzung hinter dem französischen Text her – ärgerlich.

Chéreau hat der Geschichte vom Großinquisitor einige kurze Episoden über die schreckliche Grausamkeit im Russland Dostojewskijs vorangestellt. Die ungeheuerlichste Geschichte handelt von einem Jungen, der versehentlich mit einem Steinwurf den Lieblingshund seines Gutsherren verletzt hat. Der Gutsherr nimmt grässliche, unmäßige Rache, er lässt den Knaben von einer Koppel seiner Jagdhunde zerfleischen. Er könne diese Grausamkeit nicht verzeihen, kommentiert der Erzähler, er könne nicht darauf hoffen, dass im Jenseits der grausame Mörder, der zerfleischte Junge und die untröstliche Mutter sich miteinander versöhnten.

Die Komposition des Abends legt nahe, dass Chéreau nicht einseitig den Großinquisitor als Schurken und Jesus als Lichtgestalt sieht. Chéreau verwirft beide Konzepte: die Herrschaft des Priesters, der Scheiterhaufen errichten lässt und Schrecken im Land verbreitet wie die erhabene Gleichgültigkeit von Jesus dem irdischen Leid im Diesseits gegenüber. Chéreau legt nahe, es müsse etwas Drittes geben.

Immer wieder wendet er sich bei seiner Lesung, die zur Hälfte frei gesprochene Deklamation ist, an sein Publikum. Der Abend wird zu einer Lehrstunde. Nicht nur über ein großes Stück Literatur sondern auch über die Frage, wie wir leben sollten, eine radikale Kritik der katholischen Kirche inklusive.

Ein französischer Theatermann liest einen russischen Text im Rahmen eines deutschen Festivals: ein europäischer Abend. Die Ruhrfestspiele Recklinghausen können einen starken Auftritt verbuchen.


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