Volker Braun: "Handbibliothek der Unbehausten"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016
105 Seiten, 20 Euro
Lyrisches Ich in der Wildnis
Unter dem Titel "Handbibliothek der Unbehausten" ist eine neue Sammlung mit Gedichten von Volker Braun erschienen. Sein lyrisches Ich wird von einer schweren Last nach unten gezogen - von wo aus es die Welt beobachtet.
Wie lassen sich die neuen Gedichte Volker Brauns fassen, in denen ein lyrisches Ich anzutreffen ist, das unterwegs ist in den Weiten Chinas, dem wir aber auch bei der Betrachtung von Gustav Courbets Bild "Ursprung der Welt" im Pariser Musée d'Orsay begegnen, und das man schließlich wiedertrifft in der vom Pfeifenrauch vernebelten Bibliothek des Philosophen Wolfgang Heise in Berlins Süden?
Aus den wilden Bewegungen sind wilde, auf die gesellschaftliche Verwilderung zielende Gedichte entstanden, geschrieben von einem Autor, der es gewohnt ist, in der Wildnis unterwegs zu sein. Inzwischen ist sie ihm vertraut: Braun ist ein Unbehauster.
Seit dem Erscheinen seines letzten Gedichtbands "Auf die schönen Possen" sind elf Jahre vergangen. Nun legt der 1939 in Dresden geborene Lyriker mit "Handbibliothek der Unbehausten" eine Sammlung von überwiegend in den letzten zehn Jahren entstandenen Gedichten vor, die sich in vier Abschnitte und einen Anhang gliedern ("Dämon", "Dotterleben", "La traboule", "Wilderness", "Anhang: Zeitgeist 2").
Das lyrische Ich sehnt sich nach der Ferne
Das sprechende Ich, das in diesen lyrischen Texten das Wort ergreift, stellt sich in dem Gedicht "Bestimmung" – das den Band eröffnet – selbst vor, ohne dass dabei auf biografische Daten zurückgegriffen wird. Für eine entscheidende Lebensverortung, aus der die eigene Bestimmung resultiert, gilt es, andere Koordinaten zu vermessen.
Das Sehnen des lyrischen Ichs geht in die Ferne. Es klingt wie ein Widerspruch, aber die Unerreichbarkeit der Sterne, verleiht ihm Bodenhaftung. Von der Last, die ihm zu tragen aufgegeben ist, wird es nach unten gezogen, und zugleich meldet sich der Wunsch, sich erheben zu wollen. So zerren die Zeiten, ziehen die Bewegungen an diesem seinen Platz suchenden Ich. Es verortet sich im Hier und Jetzt und greift doch über die Grenzen seines Daseins hinaus. Es findet seine Bestimmung, ohne sich damit zufriedengeben zu wollen, wie es um das Dasein bestellt ist.
Das Anfangsgedicht bildet das Zentrum des Bandes – es kann als seine geheime Mitte angesehen werden, denn alle anderen Gedichte haben ihren Ausgangspunkt in diesem Text, auf den sie sich zurückführen lassen. Braun nimmt in "Bestimmung" eine lyrische Selbstverortung vor.
Den Lauf der Welt von unten beobachtet
Eine nach unten ziehende Last, bestimmt seine Perspektive. Von unten aus verfolgt er den Weltenlauf und fasst ihn in Worte. Dabei ist er dem Dasein derer zugewandt, die unten sind, und es bleiben, auch wenn eine Rolltreppe in Medellín sie in ihre Elendshütten nach oben bringt. Wenn Volker Braun wie in dem Gedicht "Kassensturz" bilanziert, geht es um Gründe, denn der Weltkreis "kracht" und die Völker halten still. Am Schluss des Gedichts wird die Frage aufgeworfen: "Was sind wir noch zum Schein, was sind wir schon?"
Wer Volker Braun – den Dialektiker unter den gegenwärtigen Dichtern – seit seinem Debüt mit "Provokation für mich" von 1975 zu schätzen gelernt hat, wird auch zu diesem Band greifen, der aber auch in der Handbibliothek derer seinen Platz finden sollte, die von Gedichten erwarten, dass sie eingreifen, stören und Widerspruch leisten