Virtual-Reality im Stasi-Gefängnis

"Runter mit der Hose!"

Kellergang mit Zellentüren im ehemaligen Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen
Vorlage für den Film sind die Gedächtnisprotokolle des DDR-Dissidenten Jürgen Fuchs. © dpa / picture alliance / KUVARYHMÄ / Niclas Makela
Von Claudia van Laak · 17.05.2017
Die Stasi-Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen hat einen 360-Grad-Film produziert, in dem man die Rolle eines Häftlings einnimmt. Ist das zeitgemäße politische Bildung? Oder wird die DDR-Diktatur so zur Horrorshow?
"Runter mit der Hose, auch das Höschen, bücken, Backen auseinander, mit den Händen, wie sonst. Wir wollen auch ihre Geschlechtsteile sehen. Schön langsam."
Der Stasi-Offizier zieht sich die Gummihandschuhe über, dann geht die Untersuchung los. Das ist der Einstieg in den knapp neun Minuten langen Film. Mit einer Virtual-Reality-Brille wirkt der Streifen am eindringlichsten, aber auch mit einem Smartphone kann sich der Zuschauer schnell in die Rolle des Häftlings im Stasi-Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen einfühlen.
"Gesicht zur Wand. Zur Wand hab ich gesagt. Stehn´se. Komm´se. Gehn´se."
"Die Zeiten ändern sich. Es werden weniger Bücher gelesen. Dafür schnelle kurze Posts. Und vor allen Dingen bewegte Bilder. Und das ist eine Herausforderung. Und deshalb dieser Film", sagt der Leiter der Gedenkstätte Hubertus Knabe. Vorlage für den Film sind die Gedächtnisprotokolle des DDR-Dissidenten Jürgen Fuchs, den die Staatssicherheit neun Monate lang in Hohenschönhausen einsperrte, bevor er dann nach Westberlin abgeschoben wurde. Authentisch und historisch korrekt sei der Film, sagt Martin Heller, Geschäftsführer der Firma intoVR, die den 360-Grad-Streifen produziert hat.
"Wir wollen dem Zuschauer die Möglichkeit geben, das mitzuerleben, was Häftlinge damals durchgemacht haben, politische Gegner. Was das DDR-Regime ihnen angetan hat. Und wir glauben, dass man es noch stärker fühlen und nacherleben kann, wenn wir eben in der VR-Brille den Zuschauer an diesen Ort und in die Zeit zurückversetzen."

Politische Bildung als Horrorshow?

Die bedrückende Stasi-Haft zu einem Erlebnis machen? Politische Bildung als Horrorshow, als Event?
"In dem Moment, wo der Zuschauer seine Rolle verändert, wo er nicht nur Beobachter oder Leser ist, sondern Teilnehmer. Er ist selbst Häftling, er weiß gar nicht, warum er da reingeraten ist, er wird behandelt wie ein Häftling, er wird angeguckt. Er wird angeschrien, er wird eingesperrt, er wird ausgefragt. In dem Moment wird der Zuschauer vom Beobachter zum Teilnehmer. Es erlaubt ihm, das noch viel tiefergehend zu erleben, als wenn er nur Beobachter oder Zuschauer ist."

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Was die Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen da präsentiert, ist umstritten. Denn sie verstößt gegen eine Vereinbarung in der politischen Bildungsarbeit. In den 70er-Jahren hatte man sich auf einer Tagung im baden-württembergischen Beutelsbach auf den später sogenannten Beutelsbacher Konsens geeinigt – dieser beinhaltet unter anderem das Überwältigungsverbot. Schülerinnen und Schüler sollen nicht einseitig indoktriniert und emotional überwältigt werden. Der Leiter der Gedenkstätte Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, hält diese Vereinbarung für nicht mehr zeitgemäß.
"Dieser Begriff des Überwältigungsverbotes ist in der Tat etwas überholt. Heute ist nicht die Gefahr, dass man jemanden überwältigt mit dem Thema Staatssicherheitsdienst, sondern dass man ihn nicht erreicht. Das gilt auch für den Nationalsozialismus."

"Zeitzeugen reden zu lassen, reicht heute nicht mehr aus."

Gedenkstätten müssten sich unter allen Umständen den Nutzungsgewohnheiten der Jugendlichen anpassen, ist der Historiker überzeugt. Zeitzeugen reden zu lassen, reiche heute einfach nicht mehr aus.
"Und deswegen muss man es schaffen, in den ersten 10 oder 15 Sekunden denjenigen, der da einmal drauf klickt, um zu probieren, was da passiert, dann dranzuhalten, ihn praktisch reinzuziehen. Wenn das nicht gelingt, dann klickt der einfach weiter. Und dann war es das."
Christoph Classen vom Zentrum für zeithistorische Forschung - ZZF - in Potsdam hat den 360-Grad-Film der Gedenkstätte Hohenschönhausen gesehen. Er sei dilettantisch gemacht und viel zu simpel gestrickt, sagt der Historiker mit dem Schwerpunkt Geschichte und Medien:
"Er vermittelt, wenn man es ganz platt sagt, ein Gut-Böse-Schema. Es gibt die böse Staatssicherheit, die die Leute bedroht und unter Druck setzt, und man selber ist in der Rolle des Opfers. Und das ist, glaube ich, etwas, wo ich nicht denke, dass man daraus historische Erkenntnis saugen kann."
Classen hält den Ansatz, den Hubertus Knabe verfolgt, für verfehlt. Ob sich Jugendliche nach Betrachtung des Films tatsächlich inhaltlich mit der DDR-Diktatur beschäftigen wollten - sprich, ob dem emotionalen Kick die intellektuelle Auseinandersetzung folge, sei fraglich, so Christoph Classen:
"Haft ist etwas, das überall ähnlich ist, ich weiß nicht, ob ein US-amerikanisches Gefängnis gemütlicher ist als der Stasi-Untersuchungsknast es war. Aber was war eigentlich das Problem an der Stasi? Das war die fehlende Rechtsstaatlichkeit. Die Grundlage, auf der Sie verhaftet werden konnten, die fehlende Gewaltenteilung. Die fehlende Limitierung von Macht. Die Übermächtigung durch eine Institution. Und genau das können Sie aus diesem Film nicht lernen."
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