Theaterprojekt im Stasiknast

Liao Yiwu geht freiwillig ins Gefängnis

Yiwu trug während der Lesung Lieder vor und las Auszüge aus seinem Buch "Die Kugel und das Opium".
Der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu ist Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2012. © picture alliance / dpa / Marc Tirl
Von Tobias Wenzel · 01.09.2016
Der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu war wegen eines Gedichts jahrelang in China inhaftiert. Mittlerweile lebt er in Deutschland und ist nun Teil des Theaterprojekts "Die Kugel und das Opium. Verbotene Biographien" im ehemaligen Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen. Es ist ein berührendes Zeugnis seiner politischen Verfolgung.
Liao Yiwu isst Mittag auf der Terrasse seiner Berliner Wohnung: Reis mit Tofu, Hackfleisch und eingelegtem Gemüse, Spezialitäten aus seiner Heimatprovinz Sichuan:
"Von Sichuan brauche ich nur den Sichuan-Pfeffer und den Sichuan-Chili."
Die Provinz selbst, überhaupt China, ist ihm fremd geworden. Jetzt empfindet er Deutschland als sein Zuhause. Hier hat er seine Frau kennengelernt. Zusammen haben sie eine kleine Tochter:
"Mein Glaube ist die Freiheit. Deswegen bin ich nun hier. Vor kurzem bin ich mit meiner Tochter im Wald spazieren gegangen. Und da habe ich die Freiheit tief empfunden. Mein Glaube ist Freiheit. Dafür gebe ich alles andere auf."

"Tigerkäfige" in der Berliner Gedenkstätte Hohenschönhausen

Zwei Tage später betritt Liao Yiwu wieder ein Gefängnis. Ein schlanker Mann geht auf eine Menschengruppe zu:
"Guten Abend! Ich darf Sie heute Abend in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen begrüßen."

Mario Röllig war früher politischer Häftling in diesem ehemaligen zentralen Untersuchungsgefängnis der Stasi. Wegen eines gescheiterten Fluchtversuchs in den Westen.
"Bitte folgen Sie mir jetzt zu den Tigerkäfigen!"

Auch Liao Yiwu, der ehemalige politische Häftling aus China, folgt Röllig, dem ehemaligen politischen Häftling der DDR. Mit "Tigerkäfigen" meint Röllig die Verschläge im Hof. Hier hatten die Häftlinge täglich ein paar Minuten Freigang. Später wurden die "Tigerkäfige" zu einem großen Hof verbunden.
Im Gefängnishof spielt Liao Yiwu, auf einem Barhocker sitzend, Flöte, das Instrument, das er während seiner Haft in China gelernt hat. Und erst da wird allen klar: Liao selbst ist, wie Mario Röllig auch, Akteur des Theaterprojekts "Die Kugel und das Opium - Verbotene Biographien" von Johanna Marx. Sie, Bettina Hoppe und weitere Schauspieler lassen Biografien aus Liaos Interviews lebendig werden. Und natürlich auch seine eigene Biografie. Berichte über das Gefängnis, in dem Liao heimlich schrieb:
"Ich benutzte dafür das minderwertige, fast schon zerfallene Gefängnispapier, etwas anderes gab es nicht. Ich schrieb in winzigen, ameisengleichen Schriftzeichen. Auf diese Weise kritzelte ich jedes Blatt randvoll; das sparte Papier und erleichterte das Verstecken. Leider nahm dadurch meine Kurzsichtigkeit rapide zu." (Zitat aus "Der Bambusbläser")

Gedicht "Massaker" im Original vom Tonband

Die Gefängniszeit bezeichnet Liao Yiwu selbst als sein wichtigstes Schlüsselerlebnis. Er sei über Nacht von einem gefeierten, jungen Dichter zu einem Straßenköter geworden, dem niemand Beachtung schenke. Er wurde im Gefängnis gefoltert. Und das alles nur, weil ein Tonband mit seinem Gedicht "Massaker", passend zum Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens am 4. Juni 1989, der kommunistischen Führung in die Hände fiel:
Minutenlang lauschen die Zuschauer im Gefängnishof dem eingespielten Gedicht des chinesischen Dissidenten. Währenddessen zünden die Schauspieler Teelichter an. Kurz darauf interpretiert Johanna Marx die Übersetzung:
"Knallt Sie ab! Welch ein Spaß! Weg mit den Menschen,
weg mit den Sternen. In die Flucht. Allesamt. Jagt sie in die
Wolken! In die Erdspalten jagt sie!
Macht noch ein Loch in die Seele! Macht noch ein Loch in
den Stern!"

Verfolgung in DDR und China

Dieser Theaterabend berührt und verdeutlicht, wie sehr sich die Biografien der politisch Verfolgten in China und in der DDR ähneln.
"Das Beste an der DDR ist, dass ich sie überlebt habe."
Sagt Mario Röllig bitter und Liao Yiwu in seinem schwarzen Humor:
"Ich hätte nicht gedacht, dass ich im freien Deutschland so oft ins Gefängnis gehen würde."
Einige Male war er schon zum Proben da. Noch einige Male wird er zu den Aufführungen zurückkehren, um live Flöte zu spielen.
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