Arbeitsbelastung in der Veterinärmedizin

Tierärzte am Limit

29:00 Minuten
Eine Tierärztin behandelt eine Katze.
Alltag in der inzwischen geschlossenen Kleintierpraxis von Ulrike Scupin in Göttingen: Die Tierärztin fand weder Nachfolgerin noch Nachfolger. © Sibylle Kölmel
Von Sibylle Kölmel  · 08.08.2022
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Hoher Leistungsdruck, schlechte Bezahlung, lange Arbeitszeiten: Das ist der Alltag im vermeintlichen Traumberuf Tierarzt. Die wiederkehrende Konfrontation mit dem Thema Tod und das Verhalten von Tierbesitzern können zusätzliche Belastungen sein.
Christian Hackenbroich steht am Untersuchungstisch seiner Tierarztpraxis. Vor ihm auf dem Tisch liegt ein großer, dreijähriger Dobermannrüde, ängstlich und in Rückenlage, für den Ultraschall. Er hat Holzspieße gefressen, die bis zu 30 Zentimeter lang waren.
Einer dieser Spieße hat seine Magenwand perforiert. „Der Magen wurde an zwei Stellen eröffnet, weil die Spieße sich auch einfach eingespießt hatten, das war undankbar“, erklärt er.
Christian Hackenbroich ist seit 2008 Mitinhaber eines Tiergesundheitszentrums mit rund 30 Angestellten in Northeim in Niedersachsen.

Auf Achse für die Bauern der Region

In dem kleinen Dorf Unteregg im Ost-Allgäu hat Mario Beck soeben ein Kalb mit einem Blasrohr betäubt - um dann mit einer speziellen Zange die Ohrmarken einziehen zu können.
„Das ist die Oberschenkelmuskulatur, da hat er ihn jetzt getroffen. Das ist wie so ein Bremsenstich, so fühlt sich das an. Dann schlagen die zwei-, dreimal danach und dann – normalerweise – innerhalb der nächsten fünf bis zehn Minuten legt er sich hin“, erklärt er.
Der Rindertierarzt Mario Beck auf einer seiner täglichen Touren über Land.
"24 Stunden am Tag immer ansprechbar": Mario Beck arbeitet als selbstständiger Fachtierarzt für Rinder.© Sibylle Kölmel
Mario Beck arbeitet seit fast fünf Jahren als selbstständiger Fachtierarzt für Rinder. Zwischen 100 und 300 Kilometer legt er täglich mit seinem Tierarztbus zurück, um die Bauern in der Region aufzusuchen. Nach einem kurzen Gespräch mit dem Landwirt geht es weiter, zum nächsten Hof.
Mario Beck plant und organisiert auch von unterwegs: Einem Kalb mit Durchfall muss heute auch noch geholfen werden.
„Wenn man von Nord nach Süd fährt, sind es fast 30 Kilometer, und wenn man von Ost nach West fährt, sind es auch ungefähr 30 Kilometer. So ein Kreuz, da bewege ich mich. Und in diesem Umkreis sind halt Landwirte. Wenn sie Fragen, Sorgen, Probleme haben, sind wir dann eben 24 Stunden am Tag immer ansprechbar“, erzählt er.
Der Rindertierarzt Mario Beck auf einer seiner täglichen Touren über Land.
Zwischen 100 und 300 Kilometer täglich legt Mario Beck mit seinem Tierarztbus zurück.© Sibylle Kölmel

Zwei Spritzen für den Goldfisch

In Leipzig hebt Volker Jähnig, einen Goldfisch aus einem gelben Plastikeimer. „Ich fühle gar nichts, das fühlt sich alles gut an. So, komm her mein Kleiner, du kommst mal auf die Waage. 210 Gramm, sehr schön.“
Jähnig ist seit mehr als 30 Jahren praktizierender Tierarzt, Fachtierarzt für Kleintiere, zusätzlich für Zier-, Zoo- und Wildvögel, und Mitinhaber zweier Tierarztpraxen. Der große Fisch, den er jetzt in beiden den Händen hält, schwimmt seit ein paar Tagen nur noch schief und wirkt apathisch. Die Besitzerin hat ihn in die Praxis gebracht und dafür eine weite Strecke mit der Straßenbahn zurückgelegt.
„Wie alt ist er denn?“ „Also ich schätze knapp zehn Jahre. Der schwimmt nicht waagerecht, wie ein Fisch eigentlich schwimmen muss, sondern senkrecht mit dem Kopf nach unten und den Schwanz immer nach oben.“
Der Goldfisch bekommt von Volker Jähnig zwei Spritzen in die Seiten. Ein Medikament gegen Entzündungen - und ein Antibiotikum.
„So, das war’s, das würde ich gerne übermorgen noch mal machen, und dann gucken wir mal, ob da irgendwas passiert. Da ist etwas entzündet beziehungsweise eventuell sogar infiziert und deswegen lässt der den Kopf so nach unten“, erklärt er.

„Das muss man erst mal verdauen“

Anne Schilder hat in den 1990ern in Leipzig Tiermedizin studiert und arbeitet seit 2009 im Vogtland im Lebensmittelüberwachungs- und Veterinäramt, das sie seit neun Jahren leitet. Eine ihrer Aufgaben ist der sogenannte private Tierschutz.
Das Amt geht dabei Anzeigen aus der Bevölkerung nach, wenn Tiere – aus welchen Gründen auch immer – schlecht gehalten werden.
„Da hatten wir zum Beispiel eine alte Dame, die lag im Bett und war selbst auch fast verhungert und die Tiere auch“, erzählt sie. „Die Tiere liegen dann sterbend im Haus und die Frau war dann im Pflegeheim und 14 Tage später auch tot. Das nimmt man natürlich mit nach Hause und denkt dann immer wieder dran. Das muss man erst mal verdauen.“
Rund 22.000 praktizierende Tierärztinnen und Tierärzte gab es bis Ende 2021 in Deutschland. Das sagt die jährlich erscheinende Statistik der Bundestierärztekammer. Gut die Hälfte von ihnen sind Praxisinhaber von Klein- und Großtierpraxen, die anderen sind überwiegend im öffentlichen Dienst angestellt oder in der Privatwirtschaft tätig.

Große Nachfrage nach den Studienplätzen

Tierarzt ist für viele nach wie vor ein Traumberuf, das Interesse an einem Studium entsprechend groß. Mehr als 2000 Bewerbungen für Veterinärmedizin verzeichnet die Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen jedes Jahr. Nur die Hälfte bekommt einen Platz an einer der fünf Universitäten. Doch über die letzten Jahre hat sich der Alltag in fast allen Bereichen verändert und so malerisch-friedvoll, wie ihn der 1916 geborene britische Tierarzt James Harriot in seinen Erzählungen beschreibt, ist der Beruf heute ohnehin eher selten.
“Fraktur von Speiche und Elle. Aber die Verschiebung ist sehr gering, also dürfte ein Gipsverband genügen. Ich öffnete meine Tasche und nahm ein paar Gipsbandagen heraus. Dann füllte ich an einer nahen Quelle einen Eimer mit Wasser. Ich feuchtete eine der Bandagen gut an und wickelte sie um das Bein. Wir wollen ein paar Minuten warten, bis der Gips hart ist, dann können wir es laufen lassen. Ich beklopfte den Verband immer wieder, und als er hart wie Stein war, sagte ich: ‚Gut, jetzt wollen wir es riskieren.‘

Das Mädchen lies den Kopf los, und das Kälbchen trabte davon. ‚Schauen Sie‘, rief Helen, ‚es kann das Bein schon belasten! Und sieht es nicht viel glücklicher aus?‘ Ich lächelte und hatte das Gefühl, wirklich etwas geleistet zu haben.“

(James Herriot, Der Doktor und das liebe Vieh)
„Wenn man landläufig an die Tierärztin oder den Tierarzt denkt, haben viele ja James Herriot vor Augen, der fast als Urbild eines Tierarztes gilt, sagt Christian Hackenbroich. „In den Büchern wird suggeriert, dass James Herriot alle Probleme lösen kann und alle Tiere behandeln kann. Das hat sich ganz massiv gewandelt.“

„Die Anfangszeit war völlig anders“

Der Leipziger Tierarzt Volker Jähnig sieht das ähnlich: „Die Anfangszeit war völlig anders, die Arbeit als praktizierender Tierarzt war völlig anders als heute, weil die Besitzer wesentlich weniger Forderungen an uns gestellt haben. Die wollten, auf Deutsch gesagt, einen gesunden Hund mit möglichst wenig Aufwand“, sagt er.

Das heißt, wenn wir vor zehn Jahren noch einen Kaffee trinken konnten zwischen zwei Patienten, so trinken die Besitzer heute Wasser im Warteraum und warten auf uns. Das erhöht natürlich den Druck, aber ist natürlich wirtschaftlich auch eine gute Entwicklung.

Volker Jähnig

Verändert hat sich die Tiermedizin auch, weil die Spezialisierungen zugenommen haben. Das beobachtet auch Christian Hackenbroich, der zur Anästhesie von Schildkröten promoviert hat und heute Fachtierarzt für Anästhesie, Schmerztherapie und Intensivmedizin ist.
„Durch die fortschreitende Spezialisierung kommt es auch zu einem erhöhten Arbeitsaufkommen für den einzelnen Tierarzt, weil, wenn sie in einem Fach oder einem Bereich ein ausgewiesener Experte sind, bekommen sie natürlich von den Kollegen im Umkreis für diese entsprechenden Fälle immer mehr Überweisungen“, erklärt er.

Spezialisierung führt zu Mehrbelastung

Sie sind kaum noch in der Lage, diese abzuarbeiten, weil in vielen Bereichen Tierärzte oder Tierärztinnen mit der entsprechenden Expertise fehlen. Aber der Besitzer hat den Anspruch, immer die bestmögliche Versorgung erhalten zu wollen. und diese Diskrepanz führt zu einer Mehrbelastung, die sehr, sehr hoch ist.

Christian Hackenbroich

Diese Erfahrungen hat auch Volker Jähnig gemacht: „Irgendwann nach zehn,15 Jahren kamen dann junge Leute und haben mich gefragt, warum machen sie denn jetzt kein Röntgenbild. Ultraschall ist selbstverständlich, Blutanalyse, mehrere Endoskopiegeräte, wir haben drei Narkosegeräte. Also das technische Equipment hat in den letzten zwei Jahrzehnten extrem zugenommen, dass natürlich auch eine sehr erfolgreiche Diagnostik möglich ist und dadurch die Therapie auch besser wird.“
Der Aufwand und die Komplexität bei den Untersuchungen und Behandlungen der Tiere wird von Jahr zu Jahr größer, doch diese neuen und moderneren diagnostischen und therapeutischen Herausforderungen sind für viele Ärztinnen und Ärzte nicht das Problem. Kräftezehrend hingegen ist vielfach das Agieren der Tierhalter.

Tierhalter können anstrengend sein

Christian Hackenbroich erklärt: „Also dem Tier muss jetzt sofort und schnell geholfen werden. Und wenn ein Patientenbesitzer unseren Rat oder unsere Tätigkeit nicht wertschätzen kann oder will, wäre es hilfreich, wenn man ihm sagt, er möge doch bitte die Praxis oder Klinik verlassen und zwar gegen Unterschrift, dass man auf die Verletzung und Erkrankung des Tieres und auf die Therapieoption hingewiesen hat.“
Und weiter: „Aber es ist ein Selbstschutz für uns Tierärzte, da wir immer öfter angegriffen werden, und die Zeit, die man damit verbringt zu überlegen, was man für den Besitzer tun kann, ist die Zeit, die dem Patienten verloren geht und die wichtiger ist.“
Ulrike Scupin arbeitete über 20 Jahre in ihrer eigenen Kleintierpraxis in Göttingen. Auch sie erinnert sich an schwierige Tierbesitzer: „Ab und zu sind Leute reingekommen und haben gesagt: ‚Sie brauchen keine klinische Untersuchung mehr machen. Wir brauchen kein Gespräch mehr. Sie müssen einfach nur therapieren. Mein Hund hat das und das.‘. Wenn ich dann nachfrage, wie sie dazu kommen, schon zu verstehen, was der Hund hat, kam häufig dann: ‚Ja, ich habe das schon bei Youtube gesehen.‘ Das sind so Sachen, mit denen ich Schwierigkeiten hatte.“
Ein Hund wird in der Tierarztpraxis untersucht.
Über 20 Jahre lang arbeitete Ulrike Scupin in ihrer eigenen Kleintierpraxis.© Sibylle Kölmel

Beschimpfungen, schlechte Onlinebewertungen

Es sind nicht nur Beschimpfungen, negative Bewertungen im Internet oder Drohungen, denen Tierärzte ausgesetzt sind: Auch körperliche Attacken kommen vor – vor allem in den Großstädten. Manchen Tierhalter machen die Behandelnden für den Tod ihres Tieres verantwortlich. Gefährlich leben mitunter auch Amtsveterinäre, wenn sie Höfe kontrollieren und Tiere beschlagnahmen – oder manchmal auch töten müssen.
Es sind die Schattenseiten eines Berufes, der in vielen Fernsehserien gefeiert wird. Der Alltag ist weniger romantisch und bringt immer mehr Tierärzte an ihre Grenzen. Die Ursache dafür ist nicht nur der zum Teil schwierige Umgang mit den Tierhaltern.
Viele Tierärztinnen und Tierärzte fühlen sich auch durch ein großes Arbeitspensum mit Nacht- und Notdiensten und durch einen hohen Leistungs- und Konkurrenzdruck belastet und nicht selten überfordert. Für Volker Jähnig sind das Gründe dafür, warum zum einen in den letzten fünf Jahren die Zahl der Niederlassungen um zehn Prozent zurückgegangen ist und zum anderen ein Drittel aller Tierkliniken geschlossen wurde.

„Haustier-Boom“ bei gleichzeitigen Praxisschwund

„Die dritte Entwicklung ist, dass wir in den letzten fünf Jahren circa fünf Millionen mehr Haus- und Heimtiere betreuen müssen, bei gleichzeitig zehn Prozent weniger Praxen“, sagt er.
Dieser „Haustier-Boom“ hat sich vor allem während der Pandemie verstärkt. Weil viele Menschen in den Monaten des Lockdowns Trost oder Abwechslung durch Haustiere gesucht haben, stieg die Zahl der Hunde, Katzen, Kaninchen oder Wellensittiche im ersten Corona-Jahr um fast eine Million. Dadurch gab es 2021 in fast jedem zweiten Haushalt ein Tier. Und auch viele Menschen, die aus der Ukraine geflohen sind, brachten Haustiere mit. Nicht so einfach – bei einem sowieso schon latenten Mangel an Tierärzten.
Dass der Bedarf an Tierärztinnen und Tierärzten in Deutschland groß ist, diese Erfahrung hat auch Svenja gemacht, die ihren vollständigen Namen nicht nennen möchte. Sie steht noch am Beginn ihres Berufsweges, arbeitet als Tierärztin in einer Kleintierpraxis in Rheinland-Pfalz und erinnert sich noch gut daran, wie sie an eine ihrer ersten Stellen gekommen ist.
Ein Pfötchen wird in der inzwischen geschlossenen Kleintierpraxis von Ulrike Scupin in Göttingen untersucht.
Der Bedarf an Tierärztinnen und Tierärzten in Deutschland groß: Die Zahl der zu betreuenden Haus- und Heimtiere ist in den letzten fünf Jahren deutlich gestiegen.© Sibylle Kölmel
„Ich habe innerhalb von 24 Stunden 40 Praxen und Kliniken aus gesamt Deutschland gehabt, die mich angeschrieben haben, wo ich mir dann, ich glaube, zehn rausgesucht habe“, erzählt sie. „Von diesen zehn habe ich dann mit fünf gesprochen. Die hätten mich genommen, ohne dass ich jemals auch nur mit denen telefoniert hätte. Einfach weil der Tierärztemangel so groß ist.“

Starke körperliche und seelische Belastung

Anfangs hat die 28-Jährige in einer Klinik gearbeitet, wo sie wirklich viel habe lernen können, wie sie erzählt.

Ich habe dann aber ziemlich schnell festgestellt, dass ich total an meine Grenzen komme. Also einfach die körperliche und psychische Belastung, wenn du morgens um acht in der Klinik stehst und dann eigentlich bis acht, neun Uhr abends mehr oder weniger durchgehend gearbeitet hast – und das auch jedes zweite Wochenende – da kommt einfach jeder an seine Grenzen.

Svenja

Mit dem Tierärztemangel auf der einen und den oft noch schwierigen Start- und Arbeitsbedingungen auf der anderen Seite beschäftigt sich, als Arbeitnehmervertretung, auch der 2016 gegründete Bund angestellter Tierärzte mit Sitz in Hannover. Da habe sich in den letzten Jahren einiges verändert und in eine gute Richtung entwickelt, sagt Christian Wunderlich, selbst Tierarzt und Vorsitzender des Vereins:

„War es vielleicht in der Vergangenheit so, dass Tierärztinnen und Tierärzte aufgrund eines sehr starken Teamgefühls oder einem Verpflichtungsgefühl Dinge lange toleriert und ausgehalten haben, sehen wir, dass die Arbeitnehmenden durchaus Dinge anders hinterfragen und das ist auch gut so“, sagt er.

Beratung für Studierende, neue Gebührenordnung

Um diese Entwicklung zu unterstützen und die jungen Tierärztinnen und Tierärzte rechtzeitig auf das vorzubereiten, was sie im Berufsleben erwartet, bietet der Bund schon den Studierenden Beratungen an. „Damit die Studierenden, die das Studium verlassen, mehr Rückgrat zeigen, auch mehr Selbstbewusstsein haben und sagen, ja ich bin jetzt hier Tierärztin oder Tierarzt, und ich bin gefragt am Markt“, erklärt er.

Wir haben einen Tierärztemangel, das ist unbestritten. Und auch wir als Branche können uns das nicht erlauben, dass wir Tierärzte verlieren in eine komplett berufsfremde Richtung, weil wir einfach so ungünstige Arbeitsbedingungen anbieten. Und hier sehen wir auch gerade einen Wandel.

Christian Wunderlich

Zu diesem Wandel zählt auch die neue Gebührenordnung für Tierärzte, die ab Herbst 2022 in Kraft tritt – die erste seit 1999. Diese Gebührenordnung regelt, wie viel Geld ein Tierarzt für eine bestimmte Leistung verlangen darf. Die Erhöhung soll den Beruf des Tierarztes attraktiver machen.
Der Deutsche Tierschutzbund jedoch befürchtet, dass durch die neuen Preise mehr Tiere ins Tierheim gebracht werden – weil die Besitzer die Kosten nicht mehr aufbringen können.
Der Rindertierarzt Mario Beck mit einer Spritze.
Rindertierarzt Mario Beck mit einer Spritze: Das Einschläfern von Tieren bringt nicht wenige Tierärztinnen und Tierärzte in Konflikte.© Sibylle Kölmel

„Ich füllte die Spritze und sagte das, was ich immer sagte: ‚Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, er wird überhaupt nichts merken. Dies ist lediglich die Überdosis eines Betäubungsmittels. Es ist wirklich ein schmerzloser Tod.‘ Der Hund rührte sich nicht, als ich die Nadel einführte.

Während das Barbiturat in die Vene floss, wich die Angst aus seinen Augen, und die Muskeln begannen, sich zu entspannen. Als die Injektion beendet war, hatte die Atmung aufgehört. ‚Ist das alles?‘, fragte Mr. Dean heiser. ‚Ja, das ist alles‘, antwortete ich. ‚Er hat jetzt keine Schmerzen mehr.‘“

(James Herriot, Der Doktor und das liebe Vieh)

Das Einschläfern – und der Umgang damit

Zum Alltag vieler Tierärztinnen und Tierärzte gehört auch, dass sie viel häufiger als andere Berufsgruppen mit dem Tod konfrontiert sind und alte, unheilbar kranke oder schwer verletzte Tiere einschläfern müssen. Die Euthanasie, wie es in der medizinischen Fachsprache heißt, ist für die Tiere eine Erlösung. Trotzdem bringt sie nicht wenige Tierärztinnen und Tierärzte in Konflikte.
Gerade nach langen, vielleicht auch komplizierten Behandlungsphasen kann das Gefühl entstehen, persönlich versagt zu haben. Schließlich hatten sie einen Beruf gewählt, der sie befähigt, Tiere gesund zu erhalten oder zu heilen.
Ulrike Scupin, Tierärztin in Göttingen, erinnert sich.

Also die Euthanasie eines Haustieres ist mit das Schwierigste, was man auf emotionaler Ebene als Tierarzt zu leisten hat. Das so zu gestalten, dass hinterher einfach Frieden ist, dass hinterher auch alle erleichtert sind. Das Wort Erleichterung das trifft es wohl am besten.

Ulrike Scupin

Besonders belastend ist es für die Ärztinnen und Ärzte dann, wenn den Tieren eigentlich geholfen werden könnte, den Besitzern aber das Geld für Therapie oder die OP fehlt. Für Christian Hackenbroich, Tierarzt im niedersächsischen Northeim, ist ein Grund, warum es Tierärzten wie -haltern so schwerfällt, solche Situationen zu bewältigen, auch der, dass der Tod in unserer Gesellschaft immer wieder verdrängt wird.
„Man versucht, nicht daran zu denken, anstatt sich darauf einzustellen, dass es einen ja eigentlich jederzeit treffen könnte. und dadurch ist es immer schwerer, den Umgang damit zu üben und zu erlernen. Wir können so einen Patienten erlösen – aber es ist sehr schwierig, weil es ein sehr scharfes und zweischneidiges Schwert ist. Man muss immer hinterfragen, ist so eine Entscheidung korrekt. Und man sollte, wenn möglich, dem Besitzer auch Zeit geben das zu verarbeiten, damit er hinterher das Gefühl hat, die Entscheidung korrekt getroffen zu haben“, sagt er.
„Ich hab das nicht ungern gemacht“, sagt Ulrike Scupin, „habe immer, wenn ich wusste, dass in die Praxis ein solcher Fall gekommen ist, eine Zeit gewählt, wo wenig zu tun war, möglichst nach der Sprechstunde oder vor der Sprechstunde oder einfach außerhalb der regulären Sprechstundenzeiten.“
Sie erzählt: „Dann habe ich häufig die Leute hereingebeten, habe versucht, zu fühlen, wie die Situation ist: Wird das Tier getragen, wird das Tier im Korb gebracht, kommt es schon in Seitenlage, ist es ein Notfall oder ist es kein Notfall? Das sind halt auch so Sachen. Muss es schnell gehen, oder konnte man sich ein bisschen Zeit lassen. Und am Ende bleibt zwar die Trauer zurück. Aber der Weg in den Tod wurde von den meisten Leuten als positiv empfunden, und das, finde ich, macht eine gute Situation in der Praxis aus.“

Arbeit in der Praxis besonders belastend

An der Freien Universität Berlin forscht Marcus Doherr, Professor für Veterinär-Epidemiologie und Biometrie, zur Arbeitssituation von Tierärztinnen und Tierärzten. Schwerpunkt seiner Arbeiten sind zum einen die Arbeitsbedingungen – also Gehalt, Wochenstunden oder das Arbeitsumfeld – und zum anderen auch die private Situation der Ärzte.
„Da sind relativ klare Unterschiede rausgekommen, dass insbesondere in den praxisorientierten Berufsfeldern – und dort auch noch ganz ausgeprägt in den Fahrpraxen, also zum Beispiel Pferdepraxis – die Unzufriedenheit hoch ist, die Arbeitsbedingungen, Belastungen sehr hoch sind“, erklärt er.
Anders sei das in den Bereichen des öffentlichen Veterinärwesens, wo es eher Angestelltenverhältnisse gebe. „Dort sind die Zufriedenheiten sehr viel höher. Das hat natürlich auch mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu tun und das, gepaart mit dem höheren Frauenanteil, ist natürlich sehr prägend dafür.“

Erheblicher Gender-Pay-Gap

Ein weiteres – nicht ganz unerwartetes – Ergebnis der Studie ist, dass auch in der Veterinärmedizin Frauen immer wieder signifikant weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen.

Das ist ganz wichtig, dass es auch einen nicht unerheblichen Gender-Pay-Gap gibt – also bei gleicher Anstellung, gleicher Berufserfahrung et cetera ein deutlicher Unterschied im Gehalt von Männern und Frauen, was natürlich auch zu Unzufriedenheit führt: Insbesondere in einem Beruf, der einen zunehmend höheren Anteil von weiblichen Arbeitenden in dem Tätigkeitsbereich hat.

Marcus Doherr

Die Folge all dieser Probleme sind bei vielen Tierärztinnen und Tierärzten immer häufiger Angststörungen oder Panikattacken, Depressionen oder starke Erschöpfung. Und nationale und internationale Studien kommen zu dem Ergebnis, dass Veterinäre ein doppelt so hohes Suizidrisiko wie Ärztinnen und Ärzte anderer Bereiche haben und ein viermal so hohes wie die Allgemeinbevölkerung.
Die Psychologieprofessorin Heide Glaesmer befasst sich an der Universitätsklinik Leipzig mit der Frage, warum das so ist. Sie leitet eine Arbeitsgruppe Suizidforschung und ist Mitautorin der Studie zum Suizidrisiko im Bereich der Veterinärmedizin in Deutschland, die 2020 im Fachmagazin Veterinary Records veröffentlichen wurde. Über 3000 Berufstätige im Alter von 22 bis 69 Jahren nahmen an der Studie teil, knapp 80 Prozent von ihnen waren Frauen.
Neben allgemeinen Fragen zum persönlichen und beruflichen Umfeld sollten sich die Befragten auch dazu äußern, ob sie sich häufig erschöpft und niedergeschlagen fühlen, ob sie in den letzten zwei Wochen oder im Verlauf ihres Lebens Suizidgedanken hatten oder schon einmal einen Suizidversuch unternommen haben.

Suizidgedanken häufiger als in anderen Berufen

„Und da findet man sehr eindrucksvolle Befunde. Also man findet, dass es deutlich häufiger depressive Symptome gibt, dass es deutlich häufiger Suizidgedanken gibt, und auch dieses sogenannte Suizidrisiko. Wobei das nicht unbedingt heißt, dass jemand dann Suizid unternimmt oder daran stirbt.“
Für dieses alarmierende Ergebnis der Studie gibt es nach Meinung von Heide Glaesmer einen wesentlichen Grund: der freie Zugang zu tödlichen Medikamenten und das präzise Wissen um die Dosierung.

Das ist ein großes Thema, einfach weil Tierärzte, wenn sie niedergelassen sind, in der Praxis eine Apothekenberechtigung haben. Natürlich wissen sie aufgrund ihrer Ausbildung auch, was man in welcher Dosis nehmen muss, und das weist schon darauf hin, dass das also ein Risiko ist. Das wissen wir auch aus der Suizidprävention, dass der Zugang zu letalen Mitteln eine ganz wichtige Stellschraube der Suizidprävention ist.

Heide Glaesmer

In vielen Bereichen der Veterinärmedizin wird inzwischen darüber diskutiert, was getan werden kann und muss, um das Pensum im Beruf zu reduzieren, um Überlastungen zu vermeiden.
Vorbild könnten in diesem Punkt die USA sein, wo die Tierärztevereinigung AVMA Kongresse organisiert, auf denen Studierende, Praktizierende, Berater und Vertreter der Industrie zusammenkommen, um über den Stress und die Folgen für die Gesundheit der Veterinäre zu sprechen. Die Veterinärfakultät Colorado beschäftigt zum Beispiel eine eigene Psychologin, um die Studierenden auf die späteren emotionalen Anforderungen vorzubereiten.

Hinweis der Redaktion: Sollten Sie Hilfe in einer schwierigen Situation benötigen, können Sie sich jederzeit an die kostenlose Hotline der Telefonseelsorge wenden: 0800/1110111.
Spezielle Hilfsangebote zum Thema Suizid finden Sie bei der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention e.V..

Unterstützung von der AG Mental Health

Timo Sundmacher studiert in Leipzig Tiermedizin, im zehnten Semester. Auch er hatte schon anstrengende Phasen während seines Studiums: wegen des immensen Lernpensums und wegen schwieriger Tierbesitzer. Doch auch an deutschen Universitäten gibt es inzwischen mehr Möglichkeiten, sich dann Rat und Unterstützung zu holen.
„In Leipzig gibt es die AG Mental Health, die von Studierenden gegründet wurde, wo es eben genau darum geht, wie der Name schon sagt, mentale Gesundheit und Probleme im Studiengang miteinander zu besprechen – oder auch, wie gehe ich mit Problemen im weiteren Arbeitsleben um“, erklärt er.
Und weiter: „Soweit ich gehört habe, wird das auch sehr gerne angenommen und wird mit tollen Menschen, tollen Studierenden zusammen bearbeitet. Sie schicken auch regelmäßig über den Fachschaftsrat Informationen raus, wann sie sich wieder treffen, wann sie Workshops anbieten, um eben mit den jeweiligen Problematiken besser umgehen zu können.“

Hilfreiche Coachings und Supervisionen

Um mit den schwierigen und oftmals belastenden Situationen im Arbeitsalltag besser umgehen zu können, organisiert Anne Schilder, die Veterinäramtsleiterin aus dem Vogtland, viermal im Jahr Supervisionen für ihr Team.
Die Berliner Tierärztin Carolin Deiner bietet betriebswirtschaftliche Beratungen oder Coachings an, die viele Aspekte berühren können: den stressigen Alltag, die persönliche Karriere, die finanzielle Situation, Konflikte mit den Tierhaltern und nicht zuletzt die häufig auftretende Diskrepanz zwischen den eigenen Erwartungen und Ansprüchen an den Beruf und sich selbst - und der Realität, so wie sie ist.
„Man muss sich ja vorstellen, wer studiert Tiermedizin: Das sind überwiegend Frauen und diese Frauen sind häufig sehr gute Schülerinnen gewesen. Das heißt, sie sind erfolgsverwöhnt und sie können mit Misserfolgen nicht so gut umgehen. Und ein Misserfolg ist schon, wenn in einer Woche ein Fall irgendwie danebengegangen ist, wenn man irgendwie die Diagnose nicht richtig gestellt hat, wenn die Behandlung nicht angeschlagen hat oder so“, erklärt sie.

Da so ein bisschen diese Erwartungshaltung an sich selbst realistischer zu machen und den Perfektionismus zurückzufahren, das könnte auch hilfreich sein, um uns den Beruf irgendwie angenehmer zu gestalten.

Carolin Deiner

Der Dobermannrüde, der operiert werden musste, weil er Holzspieße gefressen hatte, ist genesen. Der Goldfisch aus Leipzig schwimmt wieder gerade, und es geht ihm gut. Dem Kalb, das für das Befestigen der Ohrmarken mit dem Blasrohr betäubt werden musste, auch.
Der Leipziger Tierarzt Volker Jähning wird seine beiden Praxen irgendwann vollständig an seinen Sohn übergeben. Mario Beck, der Rindertierarzt im Allgäu, wünscht sich, dass seine Praxis stabil bleibt und seine Kolleginnen weiter gerne mit ihm arbeiten.
Die Tierärztin Ulrike Scupin aus Göttingen musste ihre Praxis, da sie erkrankte und sich kein Nachfolger fand, Anfang 2022 schließen. Anne Schilder hätte gerne für ihr Amt mehr Personal und in Northeim, bei Christian Hackenbroich, nimmt eine Patientengeschichte ein glückliches Ende.
Medikamente und medizinsche Utensilien in einem Schrank der Tierarztpraxis.
Medikamente und medizinsche Utensilien in einem Schrank: Die Kleintierpraxis von Ulrike Scupin in Göttingen ist inzwischen geschlossen.© Sibylle Kölmel

Dackel Dingo wird nicht operiert

Eigentlich sollte dem Dackel Dingo heute die fünfte Zehe an der rechten Vorderpfote amputiert werden, weil er sich einen komplizierten Bruch zugezogen hatte und eine konservative Therapie mit Verband nicht half. Doch dann entschied der Tierarzt anders.
„Wenn ich das hier sehe, so wie Dingo hier und heute läuft, würde ich von einer Operation im Moment abraten, weil der Hund zeigt zu wenig Beschwerden. Sollte sich das ändern, sollten Arthrosen entstehen dadurch, dass die Zehe nicht korrekt zusammenwächst, kann ich immer noch amputieren, wenn der Hund Schmerzen zeigt“, erklärt Christian Hackenbroich. „Das, was Dingo heute und hier zeigt, rechtfertigt für mich keinen Eingriff. Dingo darf natürlich jetzt die nächsten drei Wochen nicht jagen. Ja, dann wünsche ich erst mal einen schönen Tag und dass wir uns so schnell nicht wiedersehen!“

“So ist es. Tiere sind unberechenbar, also ist unser ganzes Leben unberechenbar. Es ist eine lange Geschichte von kleinen Triumphen und Katastrophen, und man muss wirklich an seinem Beruf hängen, um durchzuhalten”

(James Herriot, Der Doktor und das liebe Vieh)

Autorin: Sibylle Kölmel
Sprecherin: Ilka Teichmüller
Sprecher: Mirko Böttcher
Regie: Beatrix Ackers
Technik: Ralf Perz
Redaktion: Carsten Burtke

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