Verlorene Landschaften

Wie demokratiefeindlich ist der Osten?

30:06 Minuten
Das Foto zeigt ein Hause mit Spitzdach hinter einer Mauer aus verzierten Steinelementen an der ehemaligen DDR-Grenze im Eckertal zwischen Bad Harzburg und Stapelburg, 32 Jahre nach dem Mauerfall.
Die echte Mauer fiel, die in den Köpfen blieb - zum Teil bis heute. © imago / Martin Wagner
Von Thomas Klug · 30.08.2021
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Viele Wünsche der DDR-Bürger von 1989 sind in Erfüllung gegangen: Die Welt steht ihnen offen, sie dürfen demonstrieren und frei wählen. Doch manche Ostdeutsche glauben, es sei heute genauso wie früher in der Diktatur. Was ist da schiefgegangen?
Plötzlich tauchen merkwürdige Orte auf: Eeerfurt und Maagdeburg. Die Einwohner glaubten bisher, in Erfurt oder Magdeburg zu leben. Und dann die "ehemalige DDR", aus der man angeblich stamme. Was soll das sein? Bis 1990 war die DDR sehr real. Und danach war sie Geschichte.
Bis heute gibt es seltsame Fragen: Ach, Sie stammen aus der ehemaligen DDR? Sogar Millenials aus Suhl, Hoyerswerda oder Greifswald müssen sich das fragen lassen: "Ehemalig" - das ist ein Land, das es nicht gibt.
Es gab einmal ein Land, das sich die Deutsche Demokratische Republik nannte. Von dieser ungesunden Selbstverklärung sind die drei Buchstaben DDR zurückgeblieben. Das untergegangene Land scheint als "ehemalige DDR", wahlweise "Ex-DDR" weiterzuleben. Und dort scheint es ein Problem zu geben. Eine gängige Diagnose dafür lautet: mangelnde Demokratietauglichkeit. Wirklich? Dort wo in demokratiefeindlicher Umgebung jede Woche Menschen für ein freies Land demonstrierten und dafür ins Gefängnis gingen?

"Es gibt in Deutschland immer die Neigung, die Ostdeutschen nur im Spiegel der Normalität zu sehen oder zu interpretieren. Warum ist eigentlich der Westen immer die Referenzgesellschaft? Wenn man sich davon ablöst, dann findet man auch eine ganze Menge Normalität in Ostdeutschland. So viel Normalität wie in anderen mittel- oder osteuropäischen Gesellschaften auch, die zum Teil auch mit bestimmten liberalen Prinzipien der Demokratie hadern."
(Steffen Mau, Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität Berlin)

Es ist schwierig geworden mit dem Wir. Es scheint, als würden "die Ehemaligen" schlechte Stimmung erzeugen. Sie stören dann die Erzählung von der Wiedervereinigung als Erfolgsgeschichte, als wären sie die Fettflecke auf einer Hochglanzzeitschrift. Die Diktatur habe einige dieser "Ehemaligen" für die Demokratie unerreichbar gemacht, ein rechtsradikales Weltbild habe sich verfestigt. Da könne man leider nichts mehr machen.

Streichelzoo für gescheiterte sozialistische Geschichte

Politiker versuchen sich in schnellen Erklärungen, mal eben mitgenommen im Second-Hand-Laden für politische Gebrauchslyrik. Der Händler verspricht: Mit nur einer Ursache lässt sich die ganze Welt erklären. Kleingedruckt ist zu lesen: Ware ist vom Umtausch ausgeschlossen. Der Beipackzettel fehlt. Was sollte auch darauf stehen – Warnhinweise wie: Kein knalliger kurzer Kommentar kann Konkretes er-klären. Oder: Beiliegende politische Glaubenssätze wurden in der Glückskeksfabrik hergestellt und können Spuren von Ideologie enthalten.
Eher wenig interessierte Beobachter der Debatte merken sich dann: Der Osten ist irgendwie anders. Undankbar. Putzig, aber nicht zu ändern. Der Osten als Absurditätenreservat, als Streichelzoo für gescheiterte sozialistische Geschichte, als Erziehungsaufgabe und als gute Gelegenheit für Kopfschütteln und Schulterzucken. Irgendwann, so denkt das desinteressierte Publikum, wird der Osten die Flegeljahre hinter sich haben. Und staunt, dass der Osten auch schon über 30 ist.
Ein Tagebaubagger, verschwommen im Gegenlicht, davor die Umrisse einiger junger Leute. Das Foto ziert die Titelseite des "Jahresberichts der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit". Für die Gestaltung der Broschüre ist eine Firma aus München zuständig. Immerhin: Das Foto wurde aufgenommen beim Melt Festival in Gräfenhainichen, erzählt Fotograf Stefan Höderath.
Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz, im grauen Anzug und weißem Hemd und Krawatte, hält ein Exemplar des Jahresberichts zum Stand der Deutschen Einheit in die Kamera.
Jedes Jahr stellt der Ostbeauftragte der Bundesregierung, derzeit Marco Wanderwitz (CDU), einen Bericht zum Stand der Deutschen Einheit vor. © imago images / Jürgen Heinrich
Wo einst Braunkohle abgebaut wurde, gibt es jetzt Festivals und ein Freiluftmuseum inklusive "touristischer Nutzung von Tagebaugroßgeräten" – also baggern, solange es Touristen gibt. Vom Bergwerk zur Bespaßung. Unterschiedliche Arbeitsmöglichkeiten. Andere Anforderungen. Und Mentalitätsunterschiede. Nicht in jedem Baggerfahrer steckt ein Liedermacher.
Es ist viel passiert, dort, wo mal DDR draufstand. Veränderungen kosten Kraft, besonders jene, die man selbst überstehen muss – und jene, die man nicht wirklich will. Der Westen entpuppte sich als differenzierter, als von manchen erwartet: Reisen um die Welt sind genauso so möglich wie sozialer Absturz. Und dann noch die Diskussionen, wie es nach dem Ende der Diktatur weitergehen soll. Es ging auch darum, Entscheidungen zu treffen, deren Auswirkungen gar nicht absehbar sein konnten.

Die ostdeutsche Gesellschaft war und ist differenziert

Es geht oft um Ungerechtigkeit in den Diskussionen im Osten. Wie gerecht können unterschiedliche Löhne schon sein. Oder wie ungerecht sind gleiche Sozialleistungen für sehr unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten? Fragen ohne einfache Antworten. Oder mit Antworten, die sehr von der eigenen Lebenssituation zusammenhängen. Zwischen 16 und 17 Millionen Bürger hatte die DDR 1989 noch. Zunächst sah es damals so aus, als hätten alle nur ein Ziel: die Verkrustungen im Lande aufzubrechen. Aber schnell wurde natürlich klar: So einfach ist es nicht mit dem, was das Volk will – die Gesellschaft ist wesentlich differenzierter und die gelebten Leben sind recht unterschiedlich.

Was haben die Protagonisten dieser Sendung 1989 gemacht?
Der Kabarettist Philipp Schaller war elf Jahre alt und ging in die fünfte Klasse. Auch der Unternehmer Sandy Lucka war Schüler, im brandenburgischen Wildau. Der Journalist Maik Schwert hat 1989 sein Abitur gemacht. Die Journalistin Katrin Jacob war Volontärin im Bereich Unterhaltung beim DDR-Fernsehen. Der Soziologe Steffen Mau war als Funker bei der Nationalen Volksarmee. Und die Künstlerin Katrin Hattenhauer war Mitglied der Leipziger Bürgerrechtsbewegung.

Am 4. September 1989 begann in Leipzig etwas, was diese Biografien für immer verändern wird, egal, ob sie dabei waren oder nicht. Der Montag wurde zum Demonstrationstag, Montag, natürlich nach Feierabend.
Die Staatsmacht konnte es trotz Repressalien nicht verhindern, dass sich immer mehr Menschen einfanden. Je mehr es wurden, umso weniger Mut brauchte man montags zum Demonstrieren. Aus dem "Wir sind das Volk" wurde "Wir sind ein Volk". Katrin Hattenhauer hat im September 1989 das erste Plakat in Leipzig getragen: "Für ein offenes Land mit freien Menschen". Es wurde schnell ein größeres Land.
"Ein neues Land, ein neues Leben", sagt Katrin Hattenhauer. "Und im Grunde war es auch das Ende der alten Bundesrepublik und für die Westdeutschen begann eigentlich auch etwas Neues. Auch wenn das offensichtlich niemandem so klar geworden ist. Und dieses gemeinsame neue Land: Es hätte nicht geschadet, wenn es sich eine gemeinsame, neue Verfassung gegeben hätte, an der auch beide Seiten hätten mitwirken können."

Wenn neue Gedanken auf feste Strukturen prallen

Hoffnungen prallen auf gefestigte Strukturen. Dann knirscht es nicht, dann knallt es. Es geht nicht ohne Verletzungen, manche davon bleiben lange unsichtbar. 1990 prallten sehr große Hoffnungen auf sehr feste Strukturen.
"Da hat man gedacht, man weitet einfach den Geltungsbereich des Grundgesetzes aus und man macht so eine Flächenausdehnung des westdeutschen Parteiensystems und damit ist es schon getan", sagt der Soziologe Steffen Mau.
"Aber für eine Etablierung einer demokratischen Kultur reicht das möglicherweise nicht hin. Die Westdeutschen, das darf man nicht vergessen, hatten ja selbst die Erfahrung gemacht mit der sogenannten Stunde Null, dass die Demokratie von den Amerikanern vielleicht nicht gebracht, aber begleitet worden ist."
DDR-Bürger demonstrieren am Abend des 4.9.1989 in der Innenstadt von Leipzig für Reisefreiheit und Reformen. Einige Demonstranten tragen ein Transparent mit der Aufschrift "Für ein offenes Land mit freien Menschen".
"Für ein offenes Land mit freien Menschen": DDR-Bürger demonstrieren am 4. September 1989 in Leipzig.© picture alliance / dpa / Wolfgang Kumm
Neue Gedanken im Osten prallen auf feste Strukturen im Westen – schnell ist klar, dass immer die Strukturen gewinnen. Das könnte auf Dauer Frust erzeugen bei denen, die dabei immer unterliegen. Frust, der erst später seine Wirkung entfaltet. Die Wiedervereinigung entpuppt sich als Beitritt. Demokratie in ganz Deutschland mit Strukturen, die sich bewährt haben – im Westen.
"Der Unterschied zu Westdeutschland ist wirklich, dass zu derselben Zeit, wo demokratische Institutionen entwickelt worden, eben auch ein unglaublicher Wirtschaftsboom und ein gesellschaftlicher Aufstiegssog, der kollektive Fahrstuhl nach oben, ausgelöst worden sind", sagt Mau.
"Das war in Ostdeutschland nicht der Fall. Sondern da gab es eben zeitgleich zur Etablierung demokratischer Institutionen die ökonomische Talfahrt mit Deindustrialisierung in der Fläche und Massenarbeitslosigkeit und sonstigen Dingen. Das heißt, die ökonomische oder sonstige Flankierung der Einführung einer Demokratie von außen hat so im Osten nicht stattgefunden und damit sind auch spezifische Probleme verbunden gewesen."

"Für mich ist das so eine Siegermentalität, die die Westdeutschen manchmal an den Tag legen: Alles, was ihr gemacht habt, war ja damals falsch, ihr seid ja nur fremdgesteuert worden von der Regierung und ihr habt ja nur das gemacht, was die gesagt haben." (Katrin Jacob, Journalistin)

Die neuen Gesichter und die neuen Ideen in der DDR können sich schwer durchsetzen. Ihnen fehlen die Mittel, die Lautstärke und das Vertrauen. Schnell ist klar: Der Osten wird aufgenommen, vielleicht sogar gern. Die Demokratie aber ist schon eingerichtet, Veränderungen ausgeschlossen. Und der Held der neuen Zeit heißt Kanzler der Einheit. Und wo ein Helmut Kohl in der Sonne steht, bleibt für andere nur Schatten. Höchstens.

Der Wessi als Feindbild

Die Mehrheit im Osten nimmt es hin. Die Gesichter aus dem anderen Land sind bekannt. Sie bringen natürlich die eigenen Leute mit. Dort, wo früher klar war, Menschen zu begegnen, die im Wesentlichen die gleichen Erfahrungen hatten, war plötzlich nicht einmal klar, ob da nicht unterschiedliche Sprachen aufeinander knallten. Gespräche auf Augenhöhe klappten nicht immer. Ein neues Feindbild entstand: die Wessis.
"Sie haben uns das Gefühl gegeben, dass alles, was wir geschaffen haben oder die Generationen vor uns in der DDR geschaffen haben, falsch war und haben das einfach so für nichtig erklärt, ohne darüber nachzudenken, was wir vielleicht auch Gutes erreicht haben in der DDR", sagt Katrin Jacob aus Berlin. Ab 1990 hat sie in Leipzig studiert, dann in Köln gearbeitet. Ohne viel über den Osten nachdenken zu müssen:
"Ich schätze, dass sich dieses Bewusstsein mit den Jahren erst wieder herausgebildet hat und dass diese positive Sicht darauf auch da sein muss. Damals hat man uns nach der Wende diesen Stolz eben nicht gelassen, man hat ihn ideologisch verbrämt, man hat gesagt, man hat alles mit der sozialistischen Ideologie aufgeladen und deswegen wäre es eben schlecht gewesen oder man hat es halt schlecht gemacht. Das hat vielen den Mut genommen und das, was an Aufbruchstimmung da war, wieder zunichte gemacht."

Stereotypen bestimmen die gegenseitige Wahrnehmung

Die öffentlichen Debatten waren oft von schlichter Qualität. Und die Erlebnisse, die die neuen Bundesbürger mit den alten hatten, waren nicht immer zukunftsweisend. Manch einer, der nur Demokratieerfahrung hatte, sah sich als Befreiungskämpfer in der DDR-Diktatur – faktenfrei und rein theoretisch.
"Wenn man darüber gesprochen hat und auch geurteilt hat, da hat man selbst die Position eingenommen, als wäre man, wenn man selbst in der DDR gelebt hätte, Oppositioneller gewesen. Man hat sich selbst von der westdeutschen Seite nicht als einer von den 19 Millionen gesehen, der einfach mitgemacht hätte. Das wäre aber das Wahrscheinlichste gewesen", sagt die Malerin und Bürgerrechtlerin Katrin Hattenhauer.
"Das Gleiche gilt aber auch für die Ostdeutschen, die häufig die Westdeutschen pauschal als die Leute gesehen haben, die mehr Geld verdienen, die nach Mallorca reisen können und denen alles möglich ist. Und wo viele Ostdeutsche sich nicht vorstellen konnten, dass es im Ruhrgebiet Menschen gibt, die noch nicht einmal den Urlaub bis ins Sauerland bezahlen konnten und dass es große soziale Unterschiede gab in Westdeutschland. Und die dann wiederrum auf die türkische Gemeinschaft runtergeguckt haben, als wären die dann sozusagen definitiv noch unter ihnen."
Soziale Verwerfungen und das Gefühl, im eigenen Land nicht ernstgenommen zu werden, führen allmählich zur Ohnmacht.
Sie wollen "das Volk" sein: Pegida-Demonstranten am 22. Dezember 2014 in Dresden
Wieder heißt es auf den Transparenten: "Wir sind das Volk": Pegida-Demonstranten am 22. Dezember 2014 in Dresden© dpa / picture alliance / Kay Nietfeld
Ab 2014 gingen in Dresden wieder Menschen auf die Straße, weil sie den Untergang des Abendlandes befürchteten. Im Laufe der Jahre befürchteten sie immer wieder etwas anderes: Menschen aus anderen Ländern. Oder eine Corona-Diktatur. Oder sie wähnten sich in einer neuen DDR und vermissten zugleich Putin. Die Demonstrationen in Dresden und anderen Städten sind seit jener Zeit nicht arm an schrillen Auftritten, bizarren Redebeiträgen und Applaus für krude Thesen. Einige sagen dann in die Kameras, was man nicht mehr sagen dürfe, oder sie schreien "Hau ab" zu allen, von denen sie Widerspruch erwarten.
Mehrheitsfähig ist davon nichts. Aber es ist laut. Dazwischen sind immer wieder Menschen mit echten Befürchtungen, Ängsten vor Identitätsverlust und sozialem Abstieg, mit Zweifeln an demokratischen Prozessen, mit Gefühlen von Ohnmacht. Weder auf noch vor der Bühne sind ausschließlich Ostdeutsche. Doch immer wieder werden Bezüge zu Ostdeutschland hergestellt bis hin zur Behauptung, jene Demonstrationen seien die Vollendung der Montagsdemos des Herbstes 1989. Es ist ein Schauspiel, das viele ratlos beobachten – vor Ort und aus der Ferne. Irgendwas ist passiert seit den ersten Montagsdemonstrationen in der abgeschotteten DDR. Aber was? Es scheint, als wirken sich die Irrtümer der Vergangenheit aus.

Mehr Wandel, als ein Leben verkraften kann

Maik Schwert hat in Leipzig studiert, in Frankfurt am Main ein Volontariat absolviert und lebt in Dresden. Die friedliche Revolution sieht er als Gewinn:
"Die Menschen hier haben einfach ziemlich viel Wandel durchgemacht in den vergangenen dreißig Jahren, speziell vor 30 Jahren. Wenn das Leben mal komplett auf den Kopf gestellt wird, dann kann es sein, dass das für ein Leben auch reicht. Ich denke aber, dass es vielen Menschen hier, die vielleicht nicht um die 50 sind, so wie ich, sondern zehn Jahre älter sind, genug Wandel hinter sich haben, denen es gereicht hat."

"Vielleicht sind da Ängste hervorgerufen worden, die dann auch sehr schnell niedergeknüppelt worden, als wären diese Ängste und Sorgen, so irrational sie in bestimmten Punkten sein mögen, gleich Ausdruck von 'Das muss ja fremdenfeindlich sein oder so'. Dass man da nicht den Dialog gesucht hat, ist ein Versäumnis, was auch dazu beigetragen hat, dass es so extrem geworden ist." (Philipp Schaller, Kabarettist)

An der Straße des Dresdner Kulturpalastes behindern sich zwei Nobellimousinen. Berliner Kennzeichen gegen München Kennzeichen. Ein Mann geht an ihnen vorbei, steuert durch den Bühneneingang auf einen langen Gang. Ein Vorzimmer gibt es nicht, in seinem Büro steht ein Klavier. Den Kaffee kocht er nebenan in der Küche. Dresden, sagt er, gehört nicht zu den vergessenen Städten im Osten.
"Als hier in Dresden die ersten Flüchtlingszeltstädte entstanden, wirkte das ein bisschen so, als wären UFOs gelandet mitten in der Stadt", sagt der Kabarettist Philipp Schaller, 1978 in Dresden geboren.
"Ich habe in der Zeit auch eine Weile im Flüchtlingsheim gearbeitet, wir haben da so Kulturveranstaltungen organisiert. Und plötzlich war das Kammerorchester da, spielte ‚Die vier Jahreszeiten‘ und da waren alle im Frack und ordentlich gekleidet und gegenüber saßen hundert Flüchtlinge in Decken gehüllt. Plötzlich hatte ich selber auch zum ersten Mal den Eindruck, jetzt bricht plötzlich hier die Welt ein. Vielleicht ist es das Gefühl, unsere schöne Stadt und unser gesichertes Leben – und plötzlich sollen wir uns mit Dingen beschäftigen, die neben uns stattfinden. Dass da so eine Angst kommt."
Der Traum von der idyllischen Ferne kollidiert mit dem Elend aus der Ferne vor der eigenen Haustür. Die Sehnsucht nach der großen weiten Welt trifft auf Flucht und Vertreibung. Das Elend der Welt findet sich plötzlich vor der eigenen Haustür.

"Demokratie ist nicht Amazon, du bestellst was, du kriegst was und du kriegst was. Sondern du tust was, du bringst dich ein und hast die Freude des Mitmachens tatsächlich, es zählt, was du sagst oder machst. Und ja, das ist auch Arbeit und ist natürlich auch anstrengend." (Katrin Hattenhauer, Künstlerin)

"Ich wundere mich eigentlich, dass, wenn es so nah rankommt an dich und du es sehen und fühlen kannst, dass du dann immer noch nicht denkst, meine Güte, was wäre eigentlich, wenn ich das wäre", sagt Katrin Hattenhauer.
Es gibt verschiedene Antworten darauf. Manche haben nichts mehr mit der Forderung nach offenen Grenzen von 1989 zu tun. Und nur wenig mit der großen Welt als Sehnsuchtsort. Einige haben ganz spezielle Vorstellungen vom Abendland und verweisen auf eigene nicht erfüllte Bedürfnisse. Katrin Hattenhauer gibt andere Antworten:
"Für mich ist das natürlich auch Leiden auf hohem Niveau. Das sage ich, wenn man sich die Zahlen der Welthungerhilfe anguckt, da sind 380 Millionen Menschen weltweit von Hunger betroffen. Es geht nicht immer um Ost und West hier in Deutschland, sondern es geht global um Fragen: Wie verhält sich der globale Norden zum globalen Süden, was sind Gerechtigkeitsfragen in Sachen Klimawandel, Welthunger usw.?"

1989 wurde der Alltag hochpolitisch

Der Herbst 1989 wurde legendär in der DDR: Alles konnte sich in alle Richtungen entwickeln. Jeder hatte das Gefühl, gefragt zu sein und gehört zu werden. Das war völlig neu. Es war auch die Zeit, als Beschlüsse von einem zum anderen Tag nichts mehr galten. Der Alltag damals war hochpolitisch. Die Nachrichten aus Parlament und Regierung waren so gefragt wie nie zuvor in der DDR. Es wurde nachgeholt, was vierzig Jahre lang nicht stattfand.
Das konnte kein Dauerzustand bleiben. Es galt Perspektiven fürs eigene Leben zu suchen, sich allen Veränderungen zu stellen und immer wieder umzudenken. Ausnahmesituationen als Alltag. Nicht für eine Familie, eine Stadt oder eine Region. Sondern für ein ganzes Land. Viele der bisherigen Erfahrungen wurden über Nacht wertlos. Was Neuorientierung genannt wurde, war oft nur das Einordnen in andere gesellschaftliche Zwänge.

"Die soziale Marktwirtschaft läuft ja auch von der unternehmerischen Seite. Jetzt kann man viel schimpfen, dass bestimmte Sachen nicht optimal laufen. Aber irgendwo kommt ja der Wohlstand auch her." (Sandy Lucka, Unternehmer)

Das Ende kam abrupt, irgendwann 1990, als klar war, wie die Weichen gestellt sind. Die Offenheit des Herbstes 1989 ist ein Jahr später schon verschwunden. Die Erinnerung daran ist noch da. Aber da, wo DDR war, sind auch neue Möglichkeiten. Studierende, die ein Unternehmen gründen, es in den Sand setzen und das nächste Unternehmen gründen. Das Ohnmachtsgefühl hat sich nicht überall eingenistet.
"Wir sind jetzt in der Inneren Neustadt in Dresden, bei der Avantgarde Labs GmbH. Hier im Untergeschoss, im Erdgeschoss sozusagen, haben wir Büroeinheiten, die wir nutzen für den öffentlichen Bereich, hier nebenan haben wir eine Cafeteria, die können wir uns gleich mal anschauen, wo Pausenräume sind, wo sich das ganze Leben halt auf der Arbeit abspielt", sagt der Unternehmer Sanda Lucka.
Porträtaufnahme des Unternehmers Sandy Lucka.
Sandy Lucka hat die Chancen genutzt, die ihm die Wiedervereinigung bot und eine eigene Firma aufgebaut.© Deutschlandradio / Thomas Klug
Von der DDR hat Sandy Lucka noch das Leben als Junger Pionier mitbekommen:
"Ich konnte noch nicht mal das Halstuch binden, ich habe das nie hingekriegt", sagt er. Er erinnert sich auch an die Krise zu Hause, als es um die Arbeitsplätze seiner Eltern ging:
"Wenn du halt ständig daran gewöhnt bist zu arbeiten und eine gewisse Sicherheit zu haben und das fällt doch weg, ist das ein Thema. Selbst wenn man noch relativ jung ist, man spürt das."
Der Mauerfall war für Sandy Lucka dennoch ein Glück, denn eine eigene Firma hätte er in der DDR sicher nicht aufgebaut. Eine Firma in Dresden – in anderen Ecken des Landes weckt das manchmal seltsame Erwartungen:
"Ich habe nur eine interessante Erfahrung gemacht bei einer etwas großen Firma in Hessen, wo ich mal unterwegs war und eine Schulung gemacht habe. Da habe ich in dieser Flüchtlingszeit so ein bisschen die Fahne hochgehalten für Dresden, dass dort halt nicht alles Pegida ist, diese Entwicklung auch nicht zu begrüßen ist. Das hat tatsächlich dazu geführt, dass man eine ganz andere Sicht erwartet hat von mir und am Mittagstisch dort eher rechtsorientierte Diskussionen führen musste. Das hat dann dazu geführt, dass man da dann nicht mehr zusammengearbeitet hat."

Es fehlt an strukturellen Voraussetzungen für Karrieren

Nach über 30 Jahren haben sich ein paar Klischees über die Menschen, die die DDR noch erlebt haben, verselbständigt. Die großen Debatten begnügten sich mit Schlagworten wie Stasi und maroder Staatswirtschaft, abgelöst von der ewigen Metapher von "Mauer in den Köpfen" und der Forderung, jetzt sei es aber doch endlich mal gut. Ökonomische Verwerfungen trafen auf Ignoranz. Sprechen über früher wurde als Ostalgie verschmäht. Menschen sahen ihre Biografien entwertet. Tiefergehende Erklärungen finden erst allmählich Gehör.
"Es fehlen natürlich im Osten Strukturen, um bestimmte Karrieren zu machen", sagt der Soziologe Steffen Mau.
"Wenn Sie eine Gesellschaft haben, wo die Elterngeneration da nichts anbieten kann, weil sie diese Kontakte nicht hat, aber auch der gesamte Freundeskreis dann in eine neue Welt hineingeworfen ist, dann ist sowas viel weniger vorhanden. Dann kann man sich eben nicht zu einer tollen Zeitung oder zu einer tollen Firma hin vermitteln lassen über einen guten alten Bekannten. Diese Bekannten gibt es eben nicht."
Es wäre nicht anders gegangen, ist ein Satz, den man inzwischen häufiger hört. Vielleicht stimmt der ja gar nicht. Vielleicht hätte weniger schnell Machtpolitik und dafür mehr Zeit zum Kennenlernen und Zuhören manches Ohnmachtsgefühl verhindern können. Die, die sich da vereinigten, haben zu spät bemerkt, dass sie sich vielleicht erst kennenlernen sollten.

"Auf meiner Laufrunde habe ich ein schönes Plakat gesehen. Da steht drauf: Friday for future. Montags für gestern. Ich bin mir gar nicht sicher, ob sich das darauf bezieht, was montags hier stattfindet." (Maik Schwert, Journalist)

Erfahrungen aus Deutschland Ost, gesammelt seit dreißig Jahren. Katrin Hattenhauer, die Bürgerrechtlerin, die im September 1989 die Leipziger Montagsdemonstrationen mitbegründete und dafür im Gefängnis saß, lebt heute in Oxford:
"Ich bin Künstlerin, mache politische Kunst und ich schreibe gerade meine Doktorarbeit."
Philipp Schaller war 1989 in der fünften Klasse einer polytechnischen Oberschule in Dresden: "Heute bin ich Kabarettist, arbeite als Autor, seit anderthalb Jahren bin ich der künstlerische Leiter der Dresdner Herkuleskeule."
Katrin Jakob, die 1989 ein Volontariat beim DDR-Fernsehen in Berlin machte, lebt heute in Augsburg und arbeitet als Schriftstellerin, Pseudonym: Kate Frey.
"Meine aktuelle Krimireihe, die spielt nicht nur in Berlin, sondern die Heldinnen sind dort geboren und aufgewachsen. Das gibt mir die Chance und das ist das, was ich mit meinen Geschichten erzählen und sagen möchte. Nicht nur die Stadt und die Menschen in ihrer Entwicklung zu zeigen, wie sie damals war. Bei den beiden Heldinnen ist es so, dass ihre beiden Eltern und Großeltern in der DDR aufgewachsen sind und die Wendezeit erlebt haben. Sie selbst kennen aber diese Zeit nur aus den Erzählungen kennen und machen die Erfahrung, dass sich die Stadt wieder verändert."

Genug davon, nicht gehört zu werden

Sandy Lucka, der 1989 Junger Pionier in Wildau in Brandenburg war: "Heute bin ich Unternehmer in Dresden."
Maik Schwert machte 1989 Abitur in Gotha, Bezirk Erfurt, Thüringen. "32 Jahre später bin ich bei einer Zeitung in Dresden, bei der Sächsischen Zeitung."
Steffen Mau, der 1989 seinen Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee leistete: "Heute bin ich Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin und vertrete ich den Lehrbereich Makrosoziologie."
Nach dreißig Jahren ist es möglich, dass eine Bundesregierung amtiert, in der nur die Kanzlerin eine ostdeutsche Biografie hat. Gab es schon einmal eine Regierung ohne Minister oder Ministerinnen aus Nordrhein-Westfalen oder Bayern? Immerhin: Nach dreißig Jahren erhalten die ARD-Tagesthemen eine Moderatorin, die in Ostberlin geboren wurde. Vielleicht gibt es im Osten keine Demokratiemüdigkeit. Vielleicht ist man es einfach leid, einfach übersehen und überhört zu werden. Das könnte doch sein, oder? Reden über den Osten reicht jedenfalls nicht.

Ein paar Jahrzehnte Ex
Über ein Land, das es nicht gibt, genannt Osten
Von Thomas Klug
Ton: Hermann Leppich
Regie: Roman Neumann
Redaktion: Martin Hartwig

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