Verhältnis zwischen Deutschen und Türken

Erdogans Konfrontationskurs und die Folgen

Präsident Erdogan verkündet nach einer Kabinettsitzung den Ausnahmezustand.
Präsident Erdogan verkündet nach einer Kabinettsitzung den Ausnahmezustand. © dpa
Gäste: Zafer Senocak und Prof. Dr. Wolfgang Kaschuba · 30.07.2016
Seit dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei geht Präsident Erdogan immer massiver gegen etwaige Kritiker vor. Was bedeutet dieser Konfrontationskurs für das Verhältnis zwischen Deutschen und Türken? Wir fragen den Schriftsteller Zafer Senocak und den Ethnologen Wolfgang Kaschuba.
Insgesamt sind seit dem 15. Juli über 60.000 Menschen suspendiert, entlassen oder festgenommen worden; darunter Militärangehörige, Richter, Staatsanwälte, Polizisten, sowie Tausende von Lehrern und Universitätsmitarbeitern. Dutzende Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehsender wurden geschlossen. Und die "Säuberungsaktionen" gehen weiter – allen Protesten aus dem Ausland zum Trotz.
Immerhin stellen Türken die größte Einwanderergruppe hierzulande. Die Türkei ist eines der beliebtesten Urlaubsländer der Deutschen, viele haben türkische oder türkischstämmige Nachbarn; die Kinder gehen miteinander in die Schule, es gibt viele gemischte Ehen, wirtschaftliche Beziehungen.

"Das Land befindet sich am Rande des Abgrunds"

"Es ist entsetzlich, was da passiert", sagt der Schriftsteller Zafer Senocak. "Erdogan spielt mit dem Feuer – und die Frage ist, wohin das führt. Das Land befindet sich nicht erst seit dieser Freitagnacht am Rande des Abgrunds. Eigentlich haben sich in den letzten zwei, drei Jahren die Gräben zwischen den kulturellen Orientierungen, die in dem Land verwurzelt sind, – also den frommen Konservativen und den Säkularen – vertieft."
Der Publizist ist 1961 in Ankara geboren, lebt seit 1970 in Deutschland und studierte Germanistik, Politik und Philosophie. Seit 1979 veröffentlicht er Gedichte, Essays und Prosa in deutscher Sprache und schreibt regelmäßig für Tageszeitungen. Senocak mischt sich auch in die Diskussionen um die Integration ein. Eines seiner letzten Bücher trägt den Titel: "Deutschsein - Eine Aufklärungsschrift". Obwohl er einen deutschen Pass hat, überlegt er, ob er seine geplante Türkeireise im August antreten soll. "Ich weiß nicht, ob ich auf irgendeiner Liste stehe."

Zivilgesellschaft in der Türkei stärken

"Die Situation ist ganz schwierig", sagt auch Prof. Dr. Wolfgang Kaschuba. Der Ethnologe ist Geschäftsführender Direktor des Instituts für empirische Integration- und Migrationsforschung der Humboldt-Universität zu Berlin.
"Istanbul galt lange als Metropole der Hoffnung, sie stand für Vielfalt – und nicht für Einfalt. Dort solch einen Dorffürsten zu installieren, wie Erdogan, ist grauenhaft!"
Er sorgt sich auch um seine türkischstämmigen Mitarbeiter: "Wie soll ich helfen? Ich persönlich habe keine Lust auf lahme Protestbriefe, die nichts bringen." Es sei wichtig, die zivilgesellschaftlichen Kräfte in der Türkei zu stärken.
"Aber da setzen wir auch Existenzen aufs Spiel. Es ist schon schlimm genug, dass dort Menschen ihren Job, ihre Wohnung und ihren Pass verlieren. Aber schlimm ist auch der Austausch, der da stattfindet."
Erdogan setze nun überall seine Anhänger ein.
"Wenn das so weitergeht, wird das die Türkei zurückwerfen. Wir können nur weiter Kontakt halten."

Erdogans Konfrontationskurs: Was bedeutet er für Deutsche und Türken?
Darüber diskutiert Matthias Hanselmann heute von 9 Uhr 05 bis 11 Uhr mit Zafer Senocak und Wolfgang Kaschuba. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der Telefonnummer 00800 2254 2254, per E-Mail unter gespraech@deutschlandradiokultur.de – und auf Facebook und Twitter.

Literaturhinweis:
Zafer Senocak: Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift. Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2011
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