Valentin Groebner: "Retroland. Geschichtstourismus..."

Geschichte als Wille und Vorstellung

Buchcover: Valentin Groebner "Retroland" / Eine Ansammlung von Touristen mit Fotoapparaten und Selfie-Sticks
Aus Bussen ausgespuckte, mit Handysticks bewaffnete Massen – jene Form des Tourismus, zu der man nicht gehören will. © Imago / Joko / S. Fischer Verlag
Von Thorsten Jantschek · 06.09.2018
Wenn Erlebnishunger aus Wallfahrtsorten Unterhaltungsparks macht, geht ein Stück Authentizität verloren. In "Retroland" verändert Valentin Groebner auf luzide Weise die Perspektive auf das, was uns historisch umgibt.
Ekel und Abscheu gehören zu den natürlichen Reaktionen, wenn man sich – den Stephansdom in Wien oder den Dogenpalast von Venedig im Rücken – den tausendfachen Devotionalien in den Souvenirläden rund um diese historischen Orte zuwendet: Schneekugeln aus Kunststoff, billig gepresste Schlüsselanhänger oder gleich Miniaturnachbildungen der historischen Gebäude, wahlweise in Plastik oder Marzipan. Und so glitzernd und herausgeputzt sich historische Innenstädte in Heidelberg oder Innsbruck präsentieren, so sehr ahnt man, dass hier nicht alles mehr authentisch ist – um sich dann doch in den Strom des Massentourismus einzufädeln.

Früher war alles besser – auch im Tourismus?

Den kulturkritischen Reflex, dass es sich hier um inszenierte, pittoreske, historische Erlebnisparks handelt, trägt man wie einen mittelalterlichen Schutzschild mit sich herum, um den Zumutungen dieser Form des Tourismus standzuhalten. Und man unterstellt, dass all dies eben früher ganz anders gewesen sei, als es jene aus den Bussen, Billigfliegern oder Kreuzfahrtschiffen ausgespuckten Massen mit Handysticks bewaffneter Zeitgenossen noch nicht gab, zu denen man nicht gehören will. Und natürlich immer wieder gehört.
Dass die Sehnsucht nach dem Authentischen, dem Vergangenen, der unberührten Natur, dem echt Traditionellen fast jeder Form des Reisens eingeschrieben ist, mag eine wenig überraschende Einsicht von Valentin Groebners Buch sein. Auch, dass die Infrastruktur des Massentourismus – Eisenbahn, Fotografie und Grand Hotels – im 19. Jahrhundert entstanden ist, mag man sich vielleicht denken können.

Nachgemachtes kann ebenso bedeutungsvoll sein wie Echtes

Aber damit hören die Selbstverständlichkeiten auch schon auf, nicht nur, weil Groebner zeigen kann, dass der Begriff der Altstadt als Anziehungspunkt entstanden ist, als die wirklichen mittelalterlichen Altstädte überall in Europa abgerissen wurden. Sondern auch, weil dieser Autor auf überaus leichtfüßige und höchst elegante Weise unseren Blick auf die geranienbestückten Zumutungen heutiger historischer Unterhaltungsparks selbst lenkt. "Das Banale, Kommerzielle und Nachgemachte", schreibt er, "ist ebenso reich an Information und Bedeutung wie das vermeintlich Echte – einfach, weil es da ist."
In immer neuen Stationen lässt Groebner deutlich werden, dass Geschichte gemacht wird. Auch früher schon an den Orten, die wir heute als authentische besuchen. Zum Beispiel im Piemont, auf jenen Hügeln, den Sacri Monti, auf denen seit dem späten 15. Jahrhundert Kapellen gebaut wurden, zunächst um das ferne unzugängliche Grab Christi "originalgetreu" nachzubauen. Aber das reichte offenbar nicht um den Erlebnishunger des Frömmigkeitstourismus zu stillen. Und so erschuf man dort in immer neuen Kapellen die Passionsgeschichte, ja das Leben Jesu und zuletzt sogar die biblische Erzählung seit Adam und Eva in Lebensgröße: Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes zum Anfassen, bis die Kunstwerke mit Holzgittern abgeschirmt, mit Gucklöchern versehen, zu "Sehmaschinen" wurden. Wallfahrtsorte entstanden, und sie wurden auch an anderen Stellen nachgebaut: Geschichte als Unterhaltungspark.
Dass auch heute offensichtliche historische Nachbildungen der touristischen Attraktivität, ja ihrem Vergangenheitscharakter keinen Abbruch tun, zeigt sich etwa an jener 1993 abgebrannten Holzbrücke, dem Wahrzeichen von Luzern, die originalgetreu wieder aufgebaut wurde, ebenso wie die Altstädte von Münster oder Frankfurt am Main.

Unterscheidung von Vergangenheit und Geschichte

Groebner geht es bei seinen sehr lustig beschriebenen Exkursionen um eine wichtige systematische Unterscheidung: die von Vergangenheit und Geschichte. Geschichte wird gemacht, erzählt, wird erlebbar, Vergangenheit dagegen ist unerreichbar, nicht verfügbar, auf immer verstummt. Damit verändert Groebner auf luzide Weise die Perspektive auf das, was uns historisch umgibt. Nicht ob die Geschichte wahr ist, ob es wirklich so gewesen ist, erscheint ihm zentral, sondern welche Funktionen sie heute und für uns erfüllt.
"Das Narrativ, auf dem Tourismus beruht", notiert er, "ist das der Reise in die Zeit als Ort gesteigerter Empfindung". Und eine der Funktionen, die hier größte Bindekräfte entfalten, ist das Beschwören von Identität, von geteilten Empfindungen, von Zugehörigkeit. Nicht ohne Grund sind Jubiläen (samt der Kirmes von historischen Uniformen) Orte des Beschwörens der Geschichte. Und es gehört zu den vielen Einsichten dieses klugen Buchs, dass das, wozu Geschichte gebraucht wird – gerade weil dies so wandelbar ist – zeitdiagnostisch mehr über die Gegenwart aussagt als über die Vergangenheit.

Valentin Groebner: "Retroland. Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen"
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018
224 Seiten, 20,00 Euro

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