Karl-Heinz Ott: "Und jeden Morgen das Meer"

Detailreich und von ungeahnter Schwere

Buchcover: Karl-Heinz Ott: Und jeden Morgen das Meer
Das Meer von Wales – bedrohlich, naturgewaltig, aber auch gleichgültig – setzt den Grundton des Romans. © imago / ZUMA Press / Hanser Verlag
Von Helmut Böttiger |
In seinem Roman "Und jeden Morgen das Meer" skizziert Karl-Heinz Ott das Leben einer Frau nach dem Selbstmord ihres Mannes. Voller Präzision und Details gelingt ihm eine Parallelmontage aus Erinnerungen und ihrem derzeitigen Dasein am Meer.
Karl-Heinz Ott ist ein stiller Autor, der in scheinbar beiläufigen Szenen existenzielle Abgründe freilegt – in einer Tradition, die vielleicht am ehesten in der Schweiz zu verorten ist, bei Autoren wie Robert Walser oder Markus Werner. Der süddeutsch-alemannische Raum und die Mentalität, die dort vorherrscht, bildet den Hintergrund für seine Romane.

Flucht in ein neues Leben

"Und jeden Morgen das Meer" kontrastiert eine Kindheit an der Donau und ein langes Berufsleben am Bodensee mit einer gänzlich anderen Situation: Die 62-jährige Sonja Bräuning flieht Hals über Kopf nach Wales, wo sie ein völlig neues Leben anzufangen versucht – oder besser: Sich einem völlig neuen Leben aussetzt.
Der Anlass dafür ist der Selbstmord ihres Mannes Bruno – eines schüchternen, schweigsamen Spitzenkochs, der ein jahrelang hymnisch gefeiertes Hotelrestaurant am Bodensee führte, dann aber seinen Michelin-Stern verlor und begann, sich in seinen Weinkeller zurückzuziehen und sich dem Alkohol hinzugeben. Bruno ist eine künstlerisch-melancholische Figur, die einzig und allein in der Tätigkeit des Kochens aufgeht. Ansonsten scheint er wenig lebenstauglich, redet auch kaum mit seiner Frau, und eine prägnante Szene besteht darin, dass Bruno bei einer hohen Auszeichnung einmal ein kurzes Dankeswort sprechen soll, damit aber vollkommen überfordert ist und wie ein tragischer Clown aussieht.

Neuanfang in Wales

Brunos Bruder drängt nach Brunos Tod dessen Frau hinaus, und so sieht sich die ehemalige "Prinzipalin" eines Gourmetlokals durch Zufall an die walisische Küste verwiesen. Mr. Pettibone, ein früherer Stammgast am Bodensee, hatte von einem Onkel erzählt, der von London aus in Wales ein heruntergekommenes Strandhotel leitet – dass Sonja diesen Hinweis plötzlich als eine echte Chance begreift, konsterniert Mr. Pettibone.
Karl-Heinz Ott schlägt etliche Funken aus dieser Konstellation. Es gibt sehr realistische Schilderungen der Problematik der Sterneküche, über die Risiken des selbständigen Mittelstands, aber auch den Alltag eines verlassenen Küstenstädtchens in Wales mit prägnanten kurzen Personenskizzen. Zentral ist die Sozialisation einer Außenseiterin in der süddeutschen Provinz, die in einem katholischen Internat ihren deprimierenden Höhepunkt findet – ein Leitmotiv bei Karl-Heinz Ott.

Das ganze Leben in kleinen Details verdichtet

Das Meer vor Wales setzt den Grundton des Romans, etwas Bedrohliches, Naturgewaltiges, aber auch Gleichgültiges, und erzählt wird im ständigen Wechsel: zum einen die unmittelbare Gegenwart als Bar- und Hotelbetreiberin am stürmischen Atlantik, zum anderen Sonjas Erinnerungen an ihr früheres Leben. Die Stärke des Autors besteht darin, in kleinen Details das ganze Leben verdichten zu können. Es wird knapp erzählt, mit präzisen Momenten, in denen alles zum Vorschein kommt.
Ein Vortrag über den "Sinn des Lebens" in Lindau, den Sonja in ihrer Verzweiflung besucht, wird so zu einem grotesken Slapstick. Und die schwarzen Handschuhe, die Sonja bei der Beerdigung Brunos nicht trägt, sondern nur zwischen den Fingern hält, werden zu einem großen Bild für ihren inneren Zustand. Ein Roman, der viel schwerer wiegt, als er anfangs wirkt, und der lange nachhallt.

Karl-Heinz Ott: "Und jeden Morgen das Meer"
Roman
Hanser Verlag, München 2018
143 Seiten, 18 Euro

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