Daniele dell'Agli: "Aufruhr im Zwischenreich"

Selbstbestimmt leben und selbstbestimmt sterben

Ein jüngerer Mensch umfasst das Armgelenk einer älteren Person, die im Krankenbett liegt.
Dass Menschen Sterbehilfe versagt bleiben soll, nennt Daniele dell'Agli "eine geradezu sadistische Entmündigung Wehrloser". © picture alliance / dpa / Jm Niester
Von Eike Gebhardt · 11.08.2016
Obwohl zwei Drittel der Bevölkerung aktive Sterbehilfe befürworten, bekämpfe eine unheilige Allianz aus Theologen, Konservativen und dem "medizinisch-industriellen Betreuungskomplex" erbittert die Selbstbestimmung beim Thema Tod, meint Daniele dell'Agli.
Schier fassungslos ist der Religionswissenschaftler Daniele dell'Agli angesichts konfessionell verbohrter und festgefahrener Debatten über Sterbehilfe. Da stritten Fundamentalisten um vorgebliche ethische Prinzipien, um die Betroffenen ginge es längst nicht mehr, vielmehr um Recht, Schuld und Strafe.
Und das doch eigentlich humanitär gemeinte Wort "Euthanasie" werde nur noch - wie ein später Sieg der Nationalsozialisten - in deren Sinn gebraucht. Selbst jene seltenen Stimmen der Vernunft treten nur mit Samtpfoten in den Kontroversen auf, um wenigstens ein Minimum an Rücksicht für die per Gesetz weithin entmündigten Sterbewilligen zu bewahren.
Obwohl zwei Drittel der Bevölkerung aktive Sterbehilfe befürworten, bekämpfe eine unheilige Allianz aus Theologen, Konservativen und dem "medizinisch-industriellen Betreuungskomplex" erbittert die Selbstbestimmung beim Thema Tod. Warum eigentlich?

"Sadistische Entmündigung Wehrloser"

Unerbittlich hinterfragt Daniele dell'Agli die Motive und Zusammenhänge zwischen Ethik und Interessenpolitik, Religion und Herrschaftsanspruch, Fürsorge und Entmündigung.
Warum ein selbstbestimmtes Leben kein selbstbestimmtes Sterben einschließen darf, ist und bleibt die Grundfrage. Halb genüsslich, halb empört zerpflückt der Autor jenen "als Mitleid getarnten Paternalismus, der stets zu wissen glaubt, wie zumutbar oder unzumutbar, wie sinnvoll oder sinnlos das Leid des anderen ist."
Dell'Aglis Wut richtet sich besonders auf jene "selbsternannten Lebensschützer, die selbst ausdrückliche Sterbenswünsche luzider Schwerstkranker als Äußerungen nicht zurechnungsfähig Verwirrter verhöhnen" - eine geradezu sadistische Entmündigung Wehrloser nennt er das.
Der Staat habe die Pflicht, die Bürger zu ihrem eigenen Wohl vor sich selbst zu schützen? Dann müsste man auch Rauchen, Motorradfahren und Currywürste verbieten, spottet der Autor – von Alkohol gar nicht zu reden.
Vom Nestor der zeitgenössischen Ethik, Ronald Dworkin, erhält er dabei Schützenhilfe:
"Darauf zu bestehen, dass ein Mensch auf eine Art und Weise stirbt, die nach Meinung anderer richtig ist, für ihn selbst jedoch in einem gravierenden Widerspruch zu seinem Leben steht, ist eine Form menschenverachtender Tyrannei."

Tod als Teil der Lebensgestaltung

Und hier scheint bereits das Grundsatzproblem durch: Warum sollte der selbstbestimmte Suizid überhaupt auf die Extremfälle Schwerstkranker beschränkt werden, wenn es sich bei der Selbstbestimmung um ein Grundrecht handelt?
Konsequent fordert dell'Agli eine Sterbenspädagogik, schon an Schulen, die den Tod nicht von der Lebensgestaltung ausnimmt:
"Man kann nicht permanent die Persönlichkeitsrechte des Individuums als höchste Errungenschaft des Rechtsstaates feiern und ihm dann die Bestimmung der Art und Weise, wie er sein Leben beenden will, verweigern."
Der wirklich umfassend mündige Bürger als politisches Thema? Das wäre "eine Debatte, die das Potenzial hätte, die Prinzipien demokratischer Legitimation radikaler zu erschüttern als die großen weltpolitischen Spektakel".

Daniele dell'Agli: "Aufruhr im Zwischenreich – Vorboten einer anderen Sterbekultur"
Wilhelm Fink Verlag, Stuttgart 2016
135 Seiten, 16,90 Euro

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