"Es gibt viele Definitionen von Menschenwürde"
Heute wird im Bundestag über die Sterbehilfe debattiert: Ein zutiefst emotionales Thema, dem man versucht, mit rationalen Regelungen beizukommen. Der Palliativmediziner Gian Domenico Borasio hat gemeinsam mit Kollegen einen eigenen Antrag erarbeitet. Wichtig sei vor allem, Rechtssicherheit für die Ärzte zu schaffen, sagt er.
Der Palliativmediziner Gian Domenico Borasio will Mediziner in der aktuellen Diskussion um Sterbehilfe aus der rechtlichen Grauzone befreien. Zugleich, sagte er im Deutschlandradio Kultur vor dem Hintergrund der Debatte im Bundestag, müssten die todkranken Patienten mit ihren Bedürfnissen ins Zentrum rücken.
"Wenn man mit Menschen spricht, die dem Tode nahe sind, dann stellt man eines fest: Es gibt so viele Arten zu sterben und so viele Definitionen der Würde, wie es Menschen gibt. Und damit ist es unmöglich, eine einzige Definition von Menschenwürde zu nehmen und zu sagen: 'So, und die will ich jetzt per Gesetz allen anderen Menschen in dieser Bundesrepublik aufstülpen.' Das ist Bevormundung."
Alles konzentriert sich auf den Todeszeitpunkt
Eine pluralistische Gesellschaft bestehe aus ganz vielen verschiedenen Meinungen und Anschauungen. Borasio, der Professor an der Universität Lausanne ist, betonte, in der gesamten Diskussion gerate der eigentliche Kern, nämlich die Frage, was wirklich wichtig für einen Sterbenden sei, aus dem Blickfeld. Statt dessen konzentriere sich alles auf die Frage des Todeszeitpunktes.
Der Mediziner hat gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern einen eigenen Antrag zum Thema Sterbehilfe erarbeitet, der sich am sogenannten "Oregon-Modell" orientiert, das nur einen ärztlich überwachten und begleiteten Suizid erlaubt und klare rechtliche Regelungen für die Mediziner vorsieht. Derzeit drohe Ärzten in Deutschland der Verlust der Approbation, wenn sie einem todkranken Patienten beim Suizid behilflich seien, sagte Borasio.
Er und seine Kollegen hätten die Situation im US-Bundesstaat Oregon untersucht und auch mit anderen Regelungen in Belgien, in der Schweiz und in den Niederlanden verglichen. Während die Zahl der Suizidfälle in Belgien und in den Niederlanden, wo sehr frei mit dem Thema Sterbehilfe umgegangen werde, in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen sei, sodass "von der Gefahr eines Dammbruchs" gesprochen werden könne, sei dies in Oregon nicht der Fall. Im Gegenteil: Studien hätten ergeben, dass ein Drittel der Menschen, die die todbringenden Medikamente bekommen, diese letztlich nicht eingenommen hätten, sondern auf natürliche Weise gestorben seien.
Das vollständige Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Es kommt selten vor, aber in dieser wichtigen und brisanten ethischen Frage sind die Abgeordneten frei in ihrer Entscheidung. Das sollten sie eigentlich immer sein, aber in diesem Fall ist der Fraktionszwang aufgehoben. Es geht heute im Bundestag um eine gesetzliche Regelung zur Sterbehilfe, dazu gibt es fraktionsübergreifende Gruppenanträge und man kann sich vorstellen, dass die Anträge ganz unterschiedlich sind, also vom völligen Verbot jeglicher Form von Hilfe bis zu einer geregelten Freigabe auch organisierter Formen der Suizidhilfe oder auch der Erlaubnis für Ärzte für eine Beihilfe, sofern der Patient das ausdrücklich wünscht und seine Krankheit unheilbar ist. Wie also soll man sich entscheiden? Gian Domenico Borasio ist der wohl bekannteste Palliativmediziner im deutschsprachigen Raum, er ist der Inhaber des Lehrstuhls für Palliativmedizin an der Uni Lausanne und auch Lehrbeauftragter an der Technischen Universität in München. Guten Morgen!
Gian Domenico Borasio: Guten Morgen, Frau Brink!
Brink: Ich habe schon diese vielen Anträge mit ihren unterschiedlichen Ansätzen gerade kurz zitiert, Sie haben sich ja selber mit einem Entwurf in die Debatte eingeschaltet. Was wünschen Sie sich für eine Regelung?
Borasio: Ich wünsche mir vor allem eine vernünftige und dem Menschen zugewandte Regelung. Wir haben uns zusammengesetzt, eine Gruppe von Wissenschaftlern, um uns die Daten anzuschauen, die es gibt zu dieser Frage, und einen Vorschlag zu machen, der nicht auf Weltanschauungen oder auf unbewiesene Vermutungen basiert, sondern wirklich auf das, was wir wissen über diese Art der Hilfe. Und da haben wir uns natürlich diejenigen Staaten angeschaut, in denen diese verschiedenen Formen der Hilfe schon erlaubt sind, zum Teil seit vielen Jahren, und haben zunächst einmal festgestellt, dass die Tötung auf Verlangen, wie sie in Belgien und den Niederlanden praktiziert wird, tatsächlich die Gefahr des sogenannten Dammbruchs mit sich bringt. Das zeigen uns die Daten. Es gibt eine sehr starke Steigerung der Zahlen in den letzten Jahren, in den Niederlanden sind wir schon bei weit über drei Prozent der Todesfälle, die durch Tötung auf Verlangen passieren, und in Belgien zeichnet sich eine ähnliche Tendenz ab.
Beispiel Oregon
Ganz anders ist die Situation in der Schweiz oder im US-Bundesstaat Oregon, wo nur der assistierte Suizid, also die Suizidhilfe erlaubt ist. In der Schweiz ist sie nicht geregelt, sie wird durch Suizidhilfe-Organisationen durchgeführt. Und da zeigt sich – allerdings auf niedrigerem Niveau, aber doch auch schon – eine bedenkliche Steigerung der Zahlen. Aber in Oregon – und das ist das Modell, was wir vorgeschlagen haben –, in Oregon ist seit 17 Jahren nur der ärztlich attestierte Suizid erlaubt. Und dort sind die Zahlen konstant niedrig, bei etwa zwei Promille. Eine sehr, sehr kleine Zahl. Und es gibt überhaupt keine Diskussion über die Tötung auf Verlangen, es gibt überhaupt keine Hinweise auf einen Dammbruch, es gibt überhaupt keine Hinweise darauf, dass das Arzt-Patienten-Verhältnis Schaden genommen hätte, im Gegenteil. Und es gibt überhaupt keine Hinweise darauf, dass sozialer Druck auf bestimmte Bevölkerungsgruppen, besonders alte Menschen, besonders sozial schwache Menschen entstehen würde, sich das Leben zu nehmen. Das sind die Fakten und ausgehend von diesen Fakten haben wir eine Regelung analog dem Oregon-Modell vorgeschlagen.
Brink: Das müsste dem Arzt aber dann diese Hilfe gestatten. Was ja nicht der Fall ist bei uns.
Borasio: Genau. Bei uns ist die Lage kompliziert. Es ist zwar nicht verboten, Suizidhilfe zu leisten, aber in zehn von 17 Landesärztekammern droht der Entzug der Approbation. Zudem gibt es noch andere juristische Hindernisse, zum Beispiel das Betäubungsmittelgesetz und so weiter und so fort. Das heißt, jeder Arzt, der Suizidhilfe leistet, muss schon sehr, sehr mutig sein in Deutschland, und es gibt keine Rechtssicherheit. Das ist ein untragbarer Zustand. Ich möchte noch dazu betonen, dass es interessanterweise in Oregon ... Da wird ja dieses Mittel nach einem sehr, sehr strengen Verfahren mit Beteiligung von zwei Ärzten, Aufklärung über Palliativmedizin und so weiter, dann vom Arzt verschrieben und interessanterweise nehmen ein Drittel der Menschen, die dieses Verfahren durchlaufen bis zum Schluss, dann das Mittel bis zu ihrem Tode gar nicht ein. Das heißt, sie haben diese Sicherheit, dass sie ihre Selbstbestimmung verwirklichen können, aber sie brauchen es dann nicht. Das heißt, es hat sogar eine suizidverhindernde Wirkung.
Brink: Aber es hat auch eine Phase, in der man auch überlegen kann in dieser ja wirklich für alle Beteiligten unglaublich kritischen Situation. Sie selbst haben bei 10.000 todkranken Menschen, haben Sie geschrieben in Ihrem Buch, am Bett gesessen. Was ist denn wirklich wichtig am Ende des Lebens in diesem Prozess, um den es jetzt hier geht?
Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft
Borasio: Ja, das ist eine sehr, sehr wichtige Frage, die Sie stellen. Denn wenn man das nüchtern betrachtet, muss man sich doch fragen, warum die unglaublich wichtige Diskussion über die Selbstbestimmung am Lebensende, die tausend Facetten hat, so tunnelblickartig auf die Frage der Selbstbestimmung des Todeszeitpunktes reduziert wird. Es gibt so viel mehr Fragen, die wir besprechen könnten, und wenn man mit den Menschen spricht, die dem Tode nahe sind, dann stellt man eines fest: Es gibt so viele Arten zu sterben und so viele Definitionen der Würde, wie es Menschen gibt. Und damit ist es unmöglich, eine einzige Definition von Menschenwürde zu nehmen und zu sagen, so, und die will ich jetzt per Gesetz allen anderen Menschen in dieser Bundesrepublik aufstülpen. Das ist Bevormundung.
Wir leben nun einmal in einer pluralistischen Gesellschaft, es gibt ganz, ganz viele Meinungen, ganz, ganz viele Arten zu leben und zu sterben. Und diese zu respektieren und einen vernünftigen gesetzlichen Rahmen dafür zu schaffen, das ist jetzt die Aufgabe des Gesetzgebers. Auf der anderen Seite, wenn man die Menschen wirklich fragt, wenn man ihnen zuhört, dann kriegt man mit, dass ganz, ganz andere Fragen wichtig sind. Für viele Menschen sind Fragen wie „welche Erinnerung wird von mir bleiben" oder „wie wird es meiner Familie nach meinem Tod ergehen" viel wichtiger als die Frage, wie sie selbst ihre letzte Lebensphase verbringen möchten.
Brink: Aber würde so eine gesetzliche Regelung, wie immer sie dann aussähe, den Blick frei machen für diese wichtigen Dinge, die Sie gerade genannt haben?
Borasio: Eine vernünftige gesetzliche Regelung, würden wir hoffen, könnte den Blick frei machen auf die wirklich wichtigen Probleme am Lebensende. Was Ihnen und mir eventuell am Lebensende Probleme bereiten könnte, das sind ganz andere Geschichten als die Frage der Regelung der Sterbehilfe. Es sind heute noch in Deutschland die unzureichende pflegerische Versorgung am Lebensende, die noch unzureichendere Hospiz- und Palliativversorgung – da wird es Gott sei Dank ein Gesetz geben – und vor allem und am wichtigsten die allgegenwärtige ökonomisch motivierte Übertherapie am Lebensende. Die ist rein statistisch hundert Mal wichtiger als die Frage der Sterbehilfe. Aber es wird darüber kaum geredet, weil da auch natürlich ökonomische Interessen mit im Spiel sind.
Und doch müssen wir uns fragen, was wir für ein Gesundheitssystem in der Zukunft möchten. Ich wünsche mir ein Gesundheitssystem, das in der Lage ist, wieder den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und nicht die Erlöse und die Kosten, den Menschen mit seinen Nöten, mit seinen Sorgen, mit seinen Wünschen, mit seinen Qualitäten. Das heißt, was das Gesundheitssystem, was die Ärzte wieder lernen sollten, ist das Zuhören. Also, wir reden heute viel von der sprechenden Medizin, ich glaube, manchmal reden Ärzte schon zu viel. Was wir brauchen – und das ist meine ganz tiefe Überzeugung –, ist eine hörende Medizin. Ich gehe sogar so weit, dass ich sage, die Medizin der Zukunft wird eine hörende sein oder sie wird nicht mehr sein.
Brink: Gian Domenico Borasio, Lehrbeauftragter für Palliativmedizin an der Technischen Universität München. Danke ...
Borasio: Ich danke Ihnen!
Brink: ... für das Gespräch! Heute wird im Bundestag eine gesetzliche Regelung zur Sterbehilfe debattiert.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.