Ursula Krechel: "Gehen. Träumen. Sehen. Unter Bäumen"

„Ich hatte Lust, sehr vieles zusammenzubauen“

12:06 Minuten
Die 74-jährige Ursula Krechel lehnt an einer Wand und schaut in die Kamera. Sie trägt einen dunklen Blazer und eine hellrote Bluse. Sie hat lange, braune Haare, die sie mit Seitenscheitel trägt.
Eine Form, die ihre Struktur erst selbst findet, sagt Ursula Krechel über den Essay. © Heike Steinweg
Ursula Krechel im Gespräch mit Frank Meyer · 07.06.2022
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Die Schriftstellerin Ursula Krechel hat einen Band mit Essays aus 20 Jahren veröffentlicht. Sie nimmt sich alle Freiheit bei der Themenauswahl, entsprechend breit ist diese geworden. Ein großer Gegenstand: das Träumen in Diktaturen.
Ursula Krechel hat einen Band mit Essays aus den vergangenen 20 Jahren veröffentlicht. „Gehen. Träumen. Sehen. Unter Bäumen“ ist in vier Teile gegliedert, in einem davon beschäftigt sich die Schriftstellerin und Lyrikerin mit dem Thema Träume in Diktaturen.
„Traum und Trauma, obwohl sie gänzlich verschiedenen Wortstämmen entspringen, rücken in Diktaturen nahe zusammen und sind ineinander verwoben“, heißt es im gut 30 Seiten langen Essay „Die Öffnung einer Grube: vom Träumen in Diktaturen“.

Träumen unter Pressionen

Ursula Krechel betont, dass das Leben in Diktaturen für ihr Werk generell von großer Bedeutung ist. „Ich bin ja durch meine Romane ohnehin daran interessiert, wie Menschen unter großen Pressionen leben“, sagt die 74-Jährige zu dieser Facette ihres Schreibens. „Die Romane spielen ja fast alle im Nationalsozialismus oder in der frühen Bundesrepublik, die die Auswirkungen der Pressionen im Nationalsozialismus spürt.“
Eine besondere Quelle für den genannten Essay sei das Buch von Charlotte Beradt, „die so mutig war, im Dritten Reich Leute zu befragen, die natürlich Träume hatten“. Darin zeige sich, wie das Thema Überwachen in den Schlaf eindringe.
„Ich träumte, dass ich mitten in der Nacht aufwache und sehe, wie die beiden Engelchen, die über meinem Bett hängen, nicht mehr nach oben sehen, sondern nach unten und mich scharf beobachten“, zitiert Krechel den Traum eines jungen Mädchens aus diesem Buch.
1966 wurde Beradts Sammlung „Das Dritte Reich des Traums“, von ihr selbst kommentiert, veröffentlicht. Sie, die einst bei einer Zeitung gearbeitet hatte, war mit ihrem Mann nach London und dann nach New York geflohen und überlebte so die NS-Zeit.

Träumen und Traumaufzeichnung im Lager

Mitunter dienten Träume auch als Ausweg zum Überleben, etwa in Lagern während der NS-Zeit, sagt Krechel: „Ich habe einen Freiraum hier, und diesen Freiraum nutze ich in meinem Kopf, in meiner Fantasie“, sagt sie zu den Traumaufzeichnungen von Rudolf Leonhard aus den Lagern Le Vernet und Castres.
Im Deportationslager in Frankreich habe der Autor der „Weltbühne“ und Verleger von Egon Erwin Kisch und Alfred Döblin unter anderen jede Nacht drei, vier Träume aufgeschrieben, schildert Krechel. „Es ist eigentlich fantastisch, wie er das macht und wie die Träume überhaupt bewahrt worden sind“, so die Essayistin.
„Es ist ein dicker Packen zwischen zwei Holzdeckeln, der heute in der Akademie der Künste liegt. Ich habe ihn in der Hand gehabt“, erzählt sie, die auch Mitglied der Akademie ist.
Der Titel dieses Traumbuchs von Rudolf Leonhard lautet „In derselben Nacht“. Auch ein Text von Heiner Müller, „Traumtext Oktober 1995“, zwei Monate vor dessen Tod veröffentlicht und inzwischen viel diskutiert, kommt in dem Essay vor. „Das waren Dinge, die ich mal zusammenfassen wollte zu einem Text“, erklärt Ursula Krechel.

Schreiben ohne Ziel

Offenkundig ist, wie viel Arbeit die Schriftstellerin in ihre Essay-Texte steckt, wie viele Träume sie für diesen Essay gelesen und in wie viele Leben sie sich vertieft haben muss.
„Das Essay-Schreiben ist eine Form, die eine Art von Offenheit hat, die ihre Struktur erst selber findet, indem ich schreibe“, sagt Krechel zu ihrem Arbeitsprozess bei dieser Form. „Es gibt immer eine vage Vorstellung, was ich vielleicht möchte, zum Beispiel hier eben das Träumen in Diktaturen“.
Häufig gehe sie auch von Bildern in der Kunstgeschichte aus, aber ihr Schreiben beim Essay sei nicht sehr zielgerichtet, sondern suche sich das Ziel selbst.

Diese Form des Essays, der vielleicht einen Monat oder vielleicht auch drei oder mal vier Monate braucht, gibt mir die Freude, etwas für mich ganz neu zu entdecken – und gleichzeitig etwas zu vermitteln, was ungewöhnlich ist.

Ursula Krechel

Einen Roman hingegen müsse sie lange planen, um einen Weg für vier, fünf Jahre des Schreibens zu bekommen, erzählt die vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin. Sie erhielt unter anderem sie den deutschen Buchpreis 2012 für ihren Roman „Landgericht“.

Große thematische Bandbreite

Ganz bewusst habe sie sich für die große thematische Bandbreite ihres Buches entschieden. Beim Sehen gehe es viel um Kunstgeschichte und auch um Begegnungen mit Menschen. Das Gehen umfasse Casanova ebenso wie ein Phänomen wie das Rückwärtsgehen. „Unter Bäumen“ beziehe sich vor allem auf Apfelbäume.
„Ich hatte Lust, einfach mal sehr vieles zusammenzubauen“, erklärt Ursula Krechel. „Die Breite ist es, die mich interessiert.“

Ursula Krechel: "Gehen. Träumen. Sehen. Unter Bäumen"
Verlag Jung und Jung, Salzburg 2022
480 Seiten, 30 Euro

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