Ursula Krechel über Nachkriegsdeutschland

Der Schulterschluss des Schweigens

07:39 Minuten
Johanna Wokalek und Ronald Zehrfeld in "Landgericht".
Missachtete Rückkehrer: Ursula Krechel zeigt in ihrem Roman "Landgericht", der 2017 mit Ronald Zehrfeld und Johanna Wokalek verfilmt wurde, wie schwer der Neuanfang für Verfolgte des NS-Regimes im Nachkriegsdeutschland war. © ZDF
Moderation: Stephan Karkowsky · 07.05.2020
Audio herunterladen
Nach 1945 kehrten viele Deutsche aus dem Exil zurück, um Deutschland als demokratischen Staat wieder aufzubauen. Doch die Nachkriegsgesellschaft interessierte sich nicht für ihr Schicksal, sagt Schriftstellerin Ursula Krechel.
Am 8. Mai jährt sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 75. Mal. Das richtet den Blick auch auf jene Menschen, die vor den Nationalsozialisten fliehen mussten und nach Kriegsende nach Deutschland oder in einen der Nachbarstaaten zurückkehrten: Neben Berühmtheiten wie dem Schriftsteller Thomas Mann oder dem Sozialdemokraten Willy Brandt gehörten dazu auch Hunderttausende, die in der Öffentlichkeit meist unbekannt blieben. Die Exilanten machten nach 1945 die bittere Erfahrung, dass sich in der alten Heimat niemand für ihr Schicksal und das Unrecht interessierte, das ihnen durch die Nationalsozialisten widerfahren war.
Die Stadt Trier etwa schenkte jedem Rückkehrer zur Begrüßung zehn Flaschen Wein – "zur Ruhigstellung", sagt Ursula Krechel. Die Schriftstellerin, geboren 1947 in Trier, legt den Finger in die Wunde der Verdrängung und hat viele solcher Beispiele in ihren Büchern beschrieben: Bei ihren Recherchen beschäftigt sich die Autorin mit der deutschen Nachkriegsgesellschaft und deren Gefühllosigkeit gegenüber dem Unrecht an Millionen von Menschen. Krechel nennt dies einen "Schulterschluss des Schweigens".

Das "Exil der kleinen Leute"

Ihre Romane "Geisterbahn" (2018), "Landgericht" (2012) thematisieren die Verdrängung auf bittere Weise. So erzählt "Landgericht" halbdokumentarisch die Geschichte eines nach Kuba emigrierten jüdischen Richters, der nach Mainz zurückkehrt und nicht hinnehmen will, dass ehemalige Nationalsozialisten ihre alten Ämter wieder bekleiden dürfen – als habe es das NS-Regime nie gegeben. Der Roman wurde 2012 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.
Porträt von Ursula Krechel.
Für ihren Roman "Landgericht" erhielt Ursula Krechel 2012 den Deutschen Buchpreis.© Imago / Gerhard Leber
"Wir interessieren uns für die 'große' Emigranten – ich mach' das mal in Anführungszeichen -, die die deutsche Kultur verloren hat", sagt Krechel. "Wir identifizieren uns damit – weil wir dadurch etwas verloren haben." Sie habe sich schon früh auch für das "Exil der sogenannten kleinen Leute" interessiert. Unter diesen "kleinen Leuten" seien aber gleichwohl wichtige Leute gewesen wie der später als Nachkriegsbürgermeister von Berlin berühmt gewordene Ernst Reuter und seine Familie.

Die wenigsten Emigrierten kehrten zurück

Nur fünf Prozent der Emigranten seien zurückgekehrt, so Krechel. Das seien "Menschen mit Idealismus" gewesen, die Deutschland demokratisch wiederaufbauen wollten. "Es gab eine solche Gewissheit darüber, was gemacht werden musste." Das Desinteresse der Nachkriegsgesellschaft an ihnen und ihren Geschichten sei auch vor diesem Hintergrund erschreckend.
"Dagegen saßen die Deutschen verdruckst in ihren Löchern: Niemand war etwas gewesen, niemand hatte eine Funktion – und Hitler war einfach über sie gekommen." Diese Larmoyanz, gepaart mit Vorbehalten gegenüber den Rückkehrern habe im krassen Gegensatz zu den klaren Vorstellungen und dem Wiederaufbauwillen der Emigranten gestanden.
(mkn)
Mehr zum Thema