Ursachen des IS-Terrors

Die Verantwortung des Westens

US-Präsident Barack Obama hält am 10. September 2014 im Weißen Haus in Washington eine Rede an die Nation.
Mit ihrer Irak-Politik haben die USA und das westliche Bündnis zum Aufstieg des IS beigetragen, lauten manche politische Analysen. © afp/LOEB
Von Jan Kuhlmann · 30.05.2015
Fast täglich schockieren Meldungen über die Terrorgruppe Islamischer Staat die Welt. Doch wie konnte sich der IS in der arabischen Welt überhaupt so ausbreiten? Wer hat dem IS den Boden bereitet? Mehrere Neuerscheinungen liefern Antworten.
Wie konnte es dazu kommen? Die Terrormiliz Islamischer Staat verbreitet Angst und Schrecken. Riesige Landstriche haben die Extremisten in Syrien und im Irak in Windeseile überrannt. Sie besitzen nicht nur viele Waffen und Kämpfer, sondern sind militärisch gut organisiert. Doch die Stärke des IS allein erklärt den Siegeszug nicht. Um derart große Regionen einzunehmen, musste den Extremisten der Boden bereitet werden. Ihr Erfolg hat viele Wurzeln. Der IS ist überall dort erstarkt, wo Staaten zerfallen. Eines der schlimmsten Beispiele: der Irak, wie der Islamwissenschaftler Wilfried Buchta in seinem Buch "Terror vor Europas Toren" schreibt.
"Der Vormarsch des IS, seine Gräueltaten und die spektakuläre Kalifat-Gründung (...) haben weitgehend verdeckt, dass der Staatszerfall im schiitischen Rumpfstaat Irak im vollen Gange ist. (...) Ohne ihn hätte der IS niemals die an den Rand gedrängten sunnitischen Eliten aus der Ära Saddam Husseins einbinden und so zur stärksten nichtstaatlichen Kraft im Irak werden können. Der Irak ist sowohl politisch wie auch sozial und wirtschaftlich in einer Abwärtsspirale gefangen."
Die USA haben nach 2003 die Konfessionalisierung des Irak vorangetrieben
Buchta kennt den Irak aus nächster Nähe. Über Jahre arbeitete er für die UN-Mission in Bagdad. Sein Buch ist weniger ein Band über den IS, als über den Niedergang des Landes. Dieser hat vor Jahrzehnten unter Saddam Hussein begonnen, erklärt Buchta. Dann kamen noch die UN-Sanktionen, und später der Angriff der US-Truppen.
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"Terror vor Europas Toren" von Wilfried Buchta© Campus Verlag
"Die US-Truppen sollten gegen einen von außen betrachtet funktionsfähigen Staat anrennen, hinter dessen Fassaden sich freilich nicht nur die bürokratischen und zentralstaatlichen Strukturen, sondern auch das frühere Machtmonopol der Baath-Einheitspartei in Auflösung befanden."
Die Invasion der USA tat also ihr Übriges. Washington tüftelte zwar Kriegspläne aus, machte sich aber nur ungenügende Gedanken über die Nachkriegsphase – für Buchta der Hauptgrund dafür, dass der Irak instabil wurde. Ein entsprechend drastisches Urteil fällt er über den amerikanischen Zivilverwalter Paul Bremer, der 2003 ins Amt kam:
"Bremer schaltete und waltete im Irak wie ein selbstherrlicher spanischer Vizekönig in einer abgelegenen südamerikanischen Provinz – zumindest in den ersten sechs Monaten. (...) Die Folgen für die politische Neuordnung des Irak waren dramatisch."
Völliges Versagen der politischen Eliten des Westens im Irak
So löste Bremer die irakische Armee auf. Hunderttausende Soldaten saßen gedemütigt auf der Straße – ein Reservoir für den IS. Zudem schufen die USA ein politisches System, dass die Konfessionalisierung des Iraks zementierte. Der scharfe Gegensatz zwischen Schiiten und Sunniten und vor allem die Diskriminierung der Sunniten haben dem IS entscheidend den Weg bereitet. Generell sieht Buchta ein völliges Versagen der politischen Elite. Er hat während seiner Irak-Zeit Hunderte Politiker und geistliche Führer getroffen. Sein Fazit ist schockierend.
"Bei keinem fand ich auch nur einen Hauch von Verantwortungsbewusstsein für den Irak als Ganzes. (...)Nirgendwo sah ich eine glaubhafte konstruktive Haltung für einen demokratischen Wiederaufbau. Nirgendwo gab es Bereitschaft für eine echte Versöhnung zwischen den verfeindeten Konfessionen."
Buchta ist ein ausgezeichnetes Buch über den Irak gelungen. Dies ist ein neues kenntnisreiches Standardwerk für Leser, die sich tiefergehend mit dem Zerfall des Staates beschäftigen wollen.
Steht der Nahe Osten am Anfang eines Dreißigjährigen Krieges?
Ganz anders hat der Journalist Rainer Hermann sein Buch über den IS angelegt. Details interessieren ihn nicht so, sondern die langen Entwicklungslinien der Region. Auch er kennt die arabische Welt seit Jahrzehnten. Hermann war dort lange Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen. «Endstation Islamischer Staat?», fragt er im Titel seines Buches – ein knapper und präziser, manchmal etwas zu thesenhafter Band. Hermann sieht die Region jetzt sogar am Anfang eines Dreißigjährigen Krieges wie einst Europa.
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"Endstation Islamischer Staat?" von Rainer Hermann© Verlag dtv
"Viele Elemente, die damals diesen Krieg möglich gemacht haben, finden sich heute im Nahen Osten wieder. Damals war Deutschland das Schlachtfeld für einen europäischen Krieg. (...) Heute ist Syrien das Schlachtfeld; jeder Zweite ist bereits vertrieben, die Hälfte des Landes ist zerstört – Infrastruktur, Wohnhäuser, industrielle Anlagen."
Religion im Dienst eines Vernichtungsfeldzugs
Ein diskussionswürdiger Vergleich. In der Tat gibt es einige Parallelen, etwa die Einmischung auswärtiger Mächte wie Iran und Saudi-Arabien. Und doch sollte man sich davor hüten, von einem Religionskrieg in der arabischen Welt zu sprechen. Zwar tragen die Konflikte im Irak und in Syrien starke konfessionelle Züge – doch die Grenzen sind oft fließend. In Syrien etwa stehen Sunniten an der Seite der mit den Schiiten verwandten Alawiten, die das Regime tragen. Selbst bei der IS-Terrormiliz ist fraglich, ob die Religion nicht nur eine äußere Hülle ist, die einen totalitären Vernichtungsfeldzug legitimieren soll. Dem Autor schwant dabei Böses: IS und Dschihadismus seien noch lange nicht am Ende.
"Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, dass ein Nachfolger des IS in einer weiteren Steigerung versuchen könnte, seine Herrschaft über die Levante hinaus auszudehnen und dem Rest der Welt den Krieg zu erklären. (...) Eine Steigerung und die Eskalationsstufe (...) wären ein weltweiter Krieg der Religionen. Auf die würde die Welt zusteuern, sollte es nicht gelingen, den IS militärisch und ideologisch auszulöschen."
Die Schwäche des IS: die Finanzen
Das allerdings ist ein schwieriges Unterfangen. Denn in Syrien und im Irak fehlen dem Westen die Partner, die den IS am Boden besiegen. Das analysiert ganz richtig Guido Steinberg im dritten Buch "Kalifat des Schreckens". Der Politikwissenschaftler der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik ist in Deutschland der beste Kenner des internationalen Dschihads. Bei aller Stärke, schreibt der Autor, habe die Terrormiliz durchaus mit Schwierigkeiten zu kämpfen.
"Die große Schwäche des IS sind seine Finanzen und die Versorgungslage. Der IS baute 2014 auf eine Beuteökonomie, die nur funktionierte, solange die Organisation ihren Herrschaftsbereich stetig ausweitete. Sollte die Expansion aber tatsächlich stoppen und dem IS das Geld ausgehen, könnte er schnell die Kontrolle über einige Gebiete verlieren."
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"Kalifat des Schreckens" von Guido Steinberg© Knaur Verlag
Al-Kaida nach wie vor die größere Gefahr für Europa
Das Paradoxe: Je mehr der IS in Bedrängnis gerät, desto größer ist die Gefahr von Anschlägen im Westen. Denn längst ist der Islamische Staat mit dem Terrornetzwerk Al-Kaida verfeindet – und leistet sich mit ihm ein Wettrennen um die Führung im globalen Dschihad. Dass die Welt dabei vor allem auf den IS schaut, sei ein Fehler, meint Steinberg. Denn Al-Kaida ist noch lange nicht von der Bildfläche verschwunden, sondern hat mächtige Ableger etwa im Jemen und in Syrien. Das Terrornetzwerk verfüge über das technische Know-how für Anschläge. Zudem sei Syrien voll von europäischen Dschihadisten, schreibt Steinberg und warnt:
"Die technischen Fähigkeiten sind in der Welt, möglicherweise auch in Syrien, und werden nicht wieder verschwinden. (...) Von der Verbindung europäischer Rekruten mit dem technischen Know-how und der terroristischen Erfahrung der al-Qaida geht in den nächsten Jahren eine konkretere und größere Gefahr für Europa und die USA aus als vom IS."
Es sind drei sehr unterschiedliche Bücher über den IS und sein Umfeld. Buchta ist die Leidenschaft für Irak anzumerken; Hermann analysiert nüchtern; Steinbergs Band liest sich teilweise detailliert wie eine Geheimdienstakte. Alle drei Bücher machen aber deutlich, dass dem Islamischen Staat Einhalt geboten werden muss. Sie führen zugleich auch vor Augen, dass dies allein militärisch unmöglich ist. Zuerst müssten legitime und funktionsfähige Staaten aufgebaut werden. Doch das ist eine Herkulesaufgabe und wird Generationen dauern.

Wilfried Buchta: Terror vor Europas Toren. Der Islamische Staat, Iraks Zerfall und Amerikas Ohnmacht.
Campus Verlag, Frankfurt/Main 2015, 413 Seiten, 22,90 Euro (als E-Book 20,99 Euro).

Rainer Hermann: Endstation Islamischer Staat? Staatsversagen und Religionskrieg in der arabischen Welt.
Dtv, München 2015, 143 Seiten, 12,90 Euro (als E-Book 12,99 Euro).

Guido Steinberg: Kalifat des Schreckens.
Knaur Verlag, München 2015, 208 Seiten, 12,99 Euro (als E-Book 10,99 Euro).

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