Folgen von Pandemie und Krieg

Was tun gegen steigende Armut und soziale Ungleichheit?

53:48 Minuten
Illustration einer Familie mit Kindern, die eng beieinander am Esstisch stehen und um sich herum den Gürtel enger schnallen.
Mit den Krisen steigen auch die sozialen Ungleichheiten. © Getty Images / iStock / grivina
Moderation: Birgit Kolkmann · 29.04.2022
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Die materiellen Verhältnisse vieler Bürger haben sich in den Pandemie-Jahren verschlechtert. Der Krieg in der Ukraine treibt die Preise für Energie und Lebensmittel in die Höhe. Diese Entwicklungen gefährden den Zusammenhalt der Gesellschaft.
Die Ungleichheit zwischen Arbeitenden habe sich in der Pandemie weiter verschärft, konstatiert die Soziologin Nicole Mayer-Ahuja. Beispielsweise hätten Arbeitnehmer, die in der Industrie oder in personenbezogenen Dienstleistungen in Präsenz arbeiten, enorme Einkommenseinbußen hinnehmen müssen, weil sie in Kurzarbeit geschickt wurden.
Arbeitnehmer, die im Homeoffice arbeiten konnten, bezogen jedoch weiterhin ihre vollen Löhne. "In dem riesengroßen Niedriglohnsektor, den wir in Deutschland mittlerweile haben, ist das Einkommen ohnehin nicht genug, um die Existenz zu sichern. Ein Kurzarbeitergeld führt dann erst recht dazu, dass man sich nicht mehr absichern kann. Insofern brauchen wir andere Maßnahmen." Mayer-Ahuja spricht sich unter anderem für einen Ausbau des Öffentlichen Dienstes aus.

„Unglaubliche Einkommensabfederung“

Der Präsident des Ifo-Instituts in München, Clemens Fuest, verweist dagegen darauf, dass Deutschland während der Pandemie im internationalen Vergleich eine „unglaublich gute Einkommensabfederung“ erreicht habe. Es gebe kaum ein Land auf der Welt, in dem so viel umverteilt werde wie in Deutschland.
„Anders als andere Länder sind wir mit begrenzten sozialen Härten durch die Pandemie gekommen. Das hätte alles auch viel schlimmer ausfallen können.“ Der Staat könne seine Bürger nicht vollständig gegen Einkommensschwankungen absichern, meint Fuest.
„Das wäre exzessiv, würde ja auch jeden Anreiz nehmen, selbst etwas zu tun. Oder erwarten wir eben eine anteilige Absicherung, wie wir das bei allen Versicherungen haben. Und wenn wir das vernünftiger Weise erwarten, dann muss man sagen, man hat sehr, sehr viel getan.“

Krisenbewältigung koordinieren

Der Philosoph Stefan Gosepath verweist darauf, dass Deutschland die Folgen von Pandemie und Krieg nur dann gut bewältigen kann, wenn auch seine europäischen und internationalen Partner mit den Folgen von Pandemie und Krieg zurechtkommen. „Wir sind nur ein Player in der Welt. Und wir kommen auch nur zurecht, wenn wir mit den Anderen zusammenspielen. Das heißt, die Anderen müssen auch spielfähig sein.“
Das gelte vor allem für die anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union und die Länder des ehemaligen Ostblocks, die durch den Krieg in der Ukraine in besonderer Weise belastet seien.

„Pandemiefolgen weltweit bekämpfen“

Gosepath verweist auf die Vernetzung und gegenseitige Abhängigkeit der Staaten: „Wir sehen, dass wir doch alle zusammenhängen. Wir müssen daran interessiert sein, dass die Pandemiefolgen weltweit bekämpft werden und deshalb müssen wir uns auch weltweit zu einer größeren Umverteilung entschließen."

Und das heißt, wenn wir die beiden Diskussionsstränge zusammenkoppeln: Wir müssen den Gürtel enger schnallen, um die Schulden, die wir jetzt gemacht haben, zu refinanzieren .Aber wir müssen auch wegen der Umverteilung, die wir weltweit machen müssen, vermutlich etwas abgeben. Das heißt, die nächsten Jahre werden wahrscheinlich nicht mehr so fette Jahre sein.

Stefan Gosepath, Philosoph

Die Volkswirtin und Wirtschaftsweise Veronika Grimm hält es in dieser Zeit der multiplen Krisen für geboten, eng mit anderen Staaten der Europäischen Union zusammenzuarbeiten.

Auf Zusammenhalt setzen

Im Bereich der Energie- und Verteidigungspolitik gelte es, auf Zusammenhalt zu setzen: „Es ist wichtig, dass wir uns gemeinsam klug in die Lage versetzen, diese Herausforderungen zu stemmen. Das bedeutet unter Umständen auch, dass Deutschland in den einen oder anderen sauren Apfel beißen muss.“
Bei der Frage der Bezahlungsmodalitäten für russische Energie etwa seien jetzt europäische Solidarität und ein gemeinsames Vorgehen gefragt. „Das kann natürlich auch dazu führen, dass man Risiken eingeht. Wenn man zum Beispiel versucht, die Zahlungsströme nach Russland zu beschränken, müssen wir in Kauf nehmen, dass Russland den Gashahn abdreht. Und die Frage ist: Nehmen wir das in Kauf, zugunsten einer europäischen Solidarität da ein gemeinsames Vorgehen zu beschließen?“
(ruk)

Es diskutierten:

  • Veronika Grimm, Professorin für Volkswirtschaftslehre an der Universität Erlangen-Nürnberg und Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
  • Clemens Fuest, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität München, Präsident des ifo-Instituts und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium der Finanzen
  • Nicole Mayer-Ahuja, Professorin für die Soziologie von Arbeit, Unternehmen und Wirtschaft an der Universität Göttingen
  • Stefan Gosepath, Professor für praktische Philosophie mit den Schwerpunkten Ethik, angewandte Ethik und Politik an der Freien Universität Berlin

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