Unerklärliches Bilderkino der Nacht

Die Traumsphäre ist jener rätselhafte Bereich zwischen Wachen und Schlafen, in dem alle Fantasiegestalten ihre Bühne haben. Hans Ulrich Reck widmet dem Traum eine umfängliche Darstellung in streng wissenschaftlicher Diktion.
Hans Ulrich Reck hat seiner "Traum. Enzyklopädie" drei verschiedene Fassungen von Francisco de Goyas Capricho "Der Schlaf/der Traum der Vernunft bringt Ungeheuer hervor" vorangestellt. In einem Entwurf von 1797 hat Goya die rechte obere Bildhälfte hell belassen, während auf der linken dunkle Gestalten zu sehen sind. Schützend hält eine Fledermaus ihre Flügel über den Schlafenden. In der 1799 veröffentlichten Fassung hat er diese Bildaufteilung aufgegeben: Der Hintergrund ist nun gänzlich grau und auf dem Bild sind noch mehr dämonischen Wesen zu sehen, die mit sehr wachen Augen aus dem Hintergrund auf den Träumenden zufliegen. Das Bild versteht sich als ein an die Vernunft gerichteter Weckruf. Sie darf nicht schlafen, nicht träumen, wenn verhindert werden soll, dass die dunklen, furchterregenden Gestalten das Zepter des Handels in die Hand nehmen.

Die Traumsphäre, angesiedelt zwischen Wachen und Schlafen, ist jener rätselhafte hell-dunkel Bereich, in dem alle Fantasiegestalten ihre Bühne haben: Die verführerisch Schönen feiern auf ihr ebenso bestaunte Auftritte wie die hässlich Furchterregenden. Dass der Traum einer Theatervorstellung gleicht, in der der Träumende Regisseur und Hauptdarsteller zugleich ist, kann man unter anderem aus dem ersten Teil von Recks Buch erfahren. Unter der Überschrift "Aufriss - Panorama - Abhandlung: Analysen der Traumaktivität und Kulturgeschichte des Onirischen" widmet er sich den Bereichen, in denen der Traum ein wesentliches Moment darstellt (Psychologie, Philosophie, Literatur, Kunst). Er geht aber auch auf einzelne Wissenschaftler ein, die sich mit der Traumtheorie und -analyse beschäftigt haben (Freud, Jung, Adler, Bloch, Lacan, Piaget), und er fragt nach der Bedeutung des Traums für die Bildmedien (Traum in Beziehung zur Bildform der Groteske, Traum und technische Bildmedien, Medientheorie des Träumens).

Der Autor hat die Form der Enzyklopädie gewählt, um möglichst plastisch die vorhandenen Erkenntnisse zur Traumtheorie sortieren und die sich daraus ergebenden "offenen Probleme" benennen zu können. Aus diesem Grund ist der zweite Teil des Buches wie ein Nachschlagewerk aufgebaut. Von A wie "Aborigines" über "Kino und Traum" bis zu W wie "Wittgenstein, Ludwig" ist nach Stichworten geordnet, was ein am Traumthema interessierter Nutzer zu finden hofft.

Dieser Leser sollte allerdings eine gewisse Begeisterung für den akademischen Stil mitbringen. Reck hat es nämlich vorgezogen, seine Darlegungen einer streng wissenschaftlichen Diktion zu unterwerfen, was die Lesefreude erheblich mindert. Das ist äußerst schade, denn jeder interessierte Träumende wüsste gern, wenn er wach ist, was es mit dem oft verstörenden und gänzlich unerklärlichen Bilderkino auf sich hat, das ihm im Traum geboten wird. Es ist ein Vorteil des Buches, dass Reck sich auf Fragen wie: die Übersetzung des Traumes in Sprache, die Versuche der professionellen Traumdeutung und die im Traum außer Kraft gesetzte Vernunftzensur einlässt. Doch er versteht es leider nicht, seine Leser mit traumwandlerischer Leichtigkeit zu den gesammelten Wissensschätzen zu führen. Es kostet - im Gegenteil - erhebliche Mühe, sich ihnen zu nähern.

Besprochen von Michael Opitz

Hans Ulrich Reck: "Traum. Enzyklopädie"
Wilhelm Fink Verlag, München 2010
760 Seiten, 49,90 Euro
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