Reise ins Reich der Träume und der Fantasie

Von Barbara Wiegand · 17.06.2009
Die Sammlung von Ulla und Heiner Pietzsch gehört zu den bedeutendsten deutschen Privatsammlungen der Klassischen Moderne. Die Ausstellung "Bilderträume" in der Neuen Nationalgalerie Berlin zeigt vor allem Bilder des Pariser Surrealismus aus dem Besitz des Ehepaares.
Max Ernsts Derwischhafter Hausengel, Magrittes "Geist des Komischen", der als scherenschnittartiger Riese übers karge Land geht, von bizarren Würmern bevölkerte Unterwasserwelten von Yves Tanguy. Es sind diese seltsamen Wesen, diese fantastischen Landschaften und merkwürdigen Begebenheiten, die es dem Ehepaar Ulla und Heiner Pietzsch angetan haben

"Irgendwie so das geheimnisvolle. Das Zusammenspiel von Dingen, die eigentlich gar nicht so zusammen passen. Und die surrealistische Bewegung, damals in Frankreich, die hat sich auch sehr mit Traumdeutung befasst, was mich interessiert hat. Und …
Und mit Krimi …"

Ergänzt Heiner Pietzsch. Doch dieser Krimi spielt sich nicht nur in Max Ernsts düstren Wäldern und Delvauxs bedrückend kühlen Städten ab, nicht nur die Stars unter den Surrealisten haben die beiden gesammelt. Vielmehr gibt es auch Arbeiten unbekannterer Künstler wie Richard Oelze und Roberto Matta zu sehen. Und von solchen, die eigentlich keine Surrealisten waren. Etwa Gerhard Altenbourg. Sein Aquarell eines übers erdbeerrote Land schaukelnden Mannes war das erste Werk, das Ulla und Heiner Pietzsch vor 47 Jahren kauften.

"Mit Sicherheit kann man Altenbourg nicht zu den Surrealisten zählen. Aber er ist ein Geschichtenerzähler. Er erzählt Geschichten und bringt diese Geschichten, gutartige und bösartige auf die Leinwand. Oder mehr aufs Papier bei ihm. Da liegt eine Nähe zu den Surrealisten. Das sind ja auch Geschichtenerzähler. Nur in anderer Form. Indem sie versuchen, den Denkvorgang auszuschalten und einfach Realitäten, die sie wahrnehmen, zu Papier zu bringen."

Eine brutale Geschichte erzählt etwa das Lieblingswerk von Ulla Pietzsch: Andre Massons Massaker. Die darauf abgebildeten, sich windenden und gegen die Gewalt, die ihnen angetan wird, stemmenden Frauenfiguren sind zu einer expressionistischen Komposition geballt. Das Ganze gemalt in kraftvollen, fast lebensfroh anmutenden Farben. Ein Bild also, das jenseits der fließenden Formen des Surrealismus voll kantig geschwungener Dynamik steckt – und damit beispielhaft für den weit gefassten Surrealismusbegriff des Paares ist.

Darunter fällt auch eine plüschbezogne Karton-Collage von Meret Oppenheim. Oder frühe Werke von Künstlern des amerikanischen abstrakten Expressionismus. Offensichtlich beeinflusst von berühmten Emigranten wie Max Ernst entstand etwa Barnett Newmans spiddelig geisterhaftes Wesen. In seiner verspielten Machart ist es ganz untypisch für dessen spätere, grell kontrastreiche Farbfeldmalerei. Oder auch der von Jackson Pollock als tanzendes Gerippe dargestellter Ikarus. An ihm vorbei fällt der Blick in der Neuen Nationalgalerie auf einen vogelartigen Kopf von Max Ernst. Die schwarzen im Kreis um ihn herumschwirrenden Punkte hat der Künstler aus einer durchlöcherten Dose willkürlich aufs Papier tropfen lassen – eine Methode, die Pollock später als Farbverspritzende Splash Technik perfektionier

"Das eine Bild, das sie da hängen sehen, da hat er eine Büchse an die Decke gehangen, die ein Loch hatte mit schwarzer Farbe drin. Und unten lag eine Leinwand. Und er hat die Büchse über die Leinwand drippen lassen. Und Peggy Guggenheim hat das gesehen und ist damit zu Pollock gegangen. Und Pollock hat das gesehen und gesagt: Das ist die Idee. Und hat das aber anders gemacht, indem er es aus dem Pinsel heraus drippen ließ. Und dadurch eine viel größere Unregelmäßigkeit hineinkam."

Solchen Einflüssen und Entwicklungen kann man in der erfreulich großzügig gehängten, thematisch geordneten Schau immer wieder nachspüren. Es gibt einen Raum mit kleinformatigen, fließenden Fantasmen von Dali und Tanguy, es gibt den Surrealismus in kubistisch zersplitterten Formen, etwa von Victor Brauner, aber auch von Picasso. Es gibt die fein verspielten Figuren von Miro, die so perfekt zu Alexander Calders davor schwebenden Mobiles passen. Kurator Dieter Scholz:

"Es ist kein didaktischer Rundgang in dem Sinne, dass man eine Chronologie abschreiten würde. Es sind mehr thematische Räume. Es sind manchmal monografische Räume. Ab und zu sind es Künstler, die sich begegnen, die wir auch konfrontieren miteinander. Es sind sehr unterschiedliche atmosphärische Wahrnehmungen möglich."

Es ist ein Konzept, das weitgehend aufgeht. Mit seinen klug gesetzten Schwerpunkten und überraschenden Querverweisen. Und obwohl manches der ausgestellten Werke doch abfällt vom hohen Niveau der Kollektion, weil es an Kraft fehlt und eigener Inspiration - wenn am Ende des Rundganges Altenbourgs schaukelndes Mädchen auf eine jüngst erworbene fantastische Szenerie des Leipzigers Neo Rauch trifft, dann schließt sich der Kreis, der im wunderbar weiten Bogen durch diese surrealen Bilderträume führt.

Service:
Bilderträume. Die Sammlung Ulla und Heiner Pietzsch
Neue Nationalgalerie Berlin
Vom 19.06. bis zum 22.11.2009