Ulf Erdmann Ziegler: "Eine andere Epoche"

Mit Kindheitstraumata im Bundestag

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Zu sehen ist das Cover des Buches "Eine andere Epoche" von Ulf Erdmann Ziegler.
Gerade die Teile von "Eine andere Epoche" sind die besten, die sich von den realen Ereignissen und dem Berliner Betrieb lösen. © Deutschlandradio / Suhrkamp Verlag
Von Jörg Magenau · 10.09.2021
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Gar nicht langweilig ist der Politroman "Eine andere Epoche" von Ulf Erdmann Ziegler. Dabei werden nicht nur die Skandale und Debatten der 2010er-Jahre nacherzählt. Vielmehr wird gezeigt, was Politik antreibt: der Kampf um Zugehörigkeit und Heimat.
Wäre es so, wie der Klappentext zusammenfasst, müsste man den neuen Roman von Ulf Erdmann Ziegler nicht unbedingt lesen. "Eine andere Epoche" erzähle "vom rechten Terror", heißt es dort; "von einer Krise der Verfassung, der Wiedervereinigung und der Suche nach Identität".
Außerdem geht es um den Rücktritt des Bundespräsidenten Christian Wulff, der gesagt hat, dass der Islam zu Deutschland gehört; um den vom SPD-Politiker Sebastian Edathy geleiteten NSU-Untersuchungsausschuss und die sich daran anschließende "Edathy-Affäre" wegen des Besitzes von kinderpornografischem Material; sowie um die kurze Vizekanzlerschaft Philipp Röslers, die mit der Wahlniederlage der FDP als einer persönlichen Niederlage endete.
Das politische Deutschland also in den Jahren 2011 bis 2014. All das lässt sich nachlesen. Doch es ist nur der Handlungsrahmen dieses Romans, der zwar im politischen Milieu spielt und die komplizierte Mechanik politischen Agierens gründlich und klug analysiert, darin aber nicht aufgeht.

Hauptfigur nach SPD-Politiker Edathy

Stattdessen entwirft Erdmann Ziegler vielschichtige Figuren, die lieben, leben und träumen und für die auch die Politik nur eine – und nicht einmal die wichtigste – Ebene ihrer Existenz beschreibt. Hier überkreuzen sich Karrierismus und Idealismus, Neid und Veränderungswille.
Im Mittelpunkt steht der vierzigjährige Wegman Frost, der das Büro des Bundestagsabgeordneten Andi Nair leitet, der Romanfigur, die dem Vorbild Edathys nachempfunden ist. Wegman bezeichnet sich selbst als "Indianer", weil er der Sohn einer deutschen Mutter und eines Native American ist.
An den Vater hat er nur unscharfe Erinnerungen, die Mutter hat ihn als Kind bei ihrem Bruder abgesetzt, sodass Wegman beim Onkel in der niedersächsischen Provinz in Bückeburg aufwuchs. Dort war er mit dem aus Vietnam geretteten Florian Janssen befreundet – der Rösler-Figur des Romans – mit dem ihn die ungewisse Herkunft und die Fremdheit in der Kindheitslandschaft verbindet. Wenn die beiden sich dann in Berlin wiederbegegnen, sind aus ihnen politische Antipoden geworden.

Bundestagsabgeordneter und Mädchen

Wegman, der die sozialdemokratischen Ideale der Chancengleichheit, des Antifaschismus und einer freizügigen Migrationspolitik vertritt, verliebt sich ausgerechnet in eine global agierende Immobilienmanagerin, die ganz anderen Wertmaßstäben folgt. Mehr noch ist er in deren schwarze Tochter Ellie vernarrt, die vaterlos aufwächst wie er selbst.
Die Freundschaft zwischen dem Mädchen und Wegman ist so etwas wie der wärmende Glutkern des Romans, wo sich Politik und Liebe, globale Ökonomie und lokale Probleme den Fragen des Kindes aussetzen müssen und dadurch permanent zurechtgerückt werden. Der Kampf um Zugehörigkeit und so etwas wie eine Heimat eint sie alle. Darum geht es auch auf der politischen Ebene, in der Auseinandersetzung mit dem rechten Terror und dem seltsamen Rücktritt des Bundespräsidenten.

Realgeschichte trifft Fiktion

Ziegler verzahnt geschickt die Realgeschichte mit der Fiktion, die so wirkt wie ein größeres Gebäude, in dem die Geschichte aufgehoben wird und sich von allen Seiten, aus der Perspektive der verschiedenen Figuren und Interessen, beleuchten lässt. Dennoch sind gerade die Partien des Romans die besten, die sich von den realen Ereignissen und dem Berliner Betrieb lösen: Wegmans Kindheitserinnerungen an Bückeburg und Idaho, seine nächtlichen Träume, seine plötzliche und ihn selbst überraschende Liebe.
Deshalb, und weil alle Figuren so verwundet wie gespalten und fragwürdig sind sowie mit sich selbst zu kämpfen haben, wird erkennbar, dass Politik sich aus anderen Dimensionen des Menschseins speist, wo Sachanalysen allein nicht hinreichen. "Eine andere Epoche" ist ein grandios gelungener, erhellender Roman, der dem Politischen ein Tiefenbewusstsein zu geben vermag und dem alltäglichen Menschsein seine politische Dimension erschließt.

Ulf Erdmann Ziegler: "Eine andere Epoche"
Suhrkamp, Berlin 2021
254 Seiten, 24 Euro

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