Solidarität mit der Ukraine

Bitte jubelt nicht

Demonstrierende in Köln. Auf ihren Schildern steht "Russland ist nicht Putin" und "Russen gegen den Krieg".
Demonstrierende in Köln wollen klar machen, dass viele Russen nicht Putins Krieg unterstützen. © picture alliance / Geisler-Fotopress | Christoph Hardt
Von Ofer Waldman · 07.03.2022
Derzeit vereinen sich große Teile der Öffentlichkeit in der Kritik an Russlands Krieg. Das ist verständlich, findet der Autor Ofer Waldman. Er warnt aber davor, alles Russische zu stigmatisieren. Sein Appell: Ladet den Krieg nicht so gedankenlos ein.
Auf der Straße in Berlin habe ich einen kleinen Jungen mit seiner Mutter gesehen. Der Junge war fröhlich und redete laut. Er sprach hörbar Russisch. Die Mutter blickte sich um und signalisierte ihrem Kind, still zu sein. In ihren Augen stand blanke Angst.

Ein „Wir“ entsteht

Der verbrecherische Überfall Putins auf die Ukraine löste in Deutschland eine Welle der Entrüstung und der Solidarität aus. Kleider und Medikamente werden gesammelt, Geld gespendet, Demonstrationen organisiert. Jede und jeder will den tapferen Ukrainern helfen, die es wider Erwarten schaffen, dem russischen Aggressor zu trotzen.
Ein Konsens ohnegleichen überzieht das Land. Plötzlich gibt es etwas, das alle Menschen hierzulande verbindet. Ein „Wir“ entsteht, ein neues Gefühl. Wir – wir stehen mit der Ukraine, wir sind solidarisch, jeder und jede von uns. Es ist ein kraftvolles Erlebnis. Ein Erlebnis, das vereint, das Tatendrang erweckt.

Alles Russische wird ausgestoßen

Fast möchte man selber einen Molotow-Cocktail in die Hand nehmen und auf einen russischen Panzer werfen. Doch auf deutschen Straßen fahren keine russischen Panzer. Ersatzziele müssen also her. Alles Russische wird identifiziert, markiert, ausgestoßen. Russische Läden, russische Kultureinrichtungen und Kulturschaffende werden angefeindet, russische Firmen, Sportvereine, Russinnen und Russen, alles, was mit diesem mächtigen Wir nicht im Einklang steht. Alle Verbindungen nach Russland werden gekappt. Überall gibt es Ersatzkriegsschauplätze. Sinfonieorchester, Universitäten, Arztkliniken, Buchläden.
Im Bundestag verkündet der Bundeskanzler, 100 Milliarden Euro in die Bundeswehr zu investieren, um Deutschland, verständlicherweise, wehrfähig zu machen. Und das Parlament applaudiert. Jubelt. Aus fast allen Fraktionen ertönen zustimmende Rufe.
Bitte – und erlauben Sie mir in diesem Fall das „Du“ – bitte jubelt nicht.

Krieg ist wie ein Geschwür

Auch wenn das Blut kocht, auch wenn Deutschland gezwungen ist, seine Wehrfähigkeit zu stärken, auch wenn der Geist der Solidarität ein neues Gemeinschaftsgefühl, ein neues Wir entstehen lässt: Bitte jubelt nicht. Jubelt nicht, wenn russische Kulturschaffende aus den Theater- und Konzertbühnen verjagt werden, auch wenn es bei wenigen einzelnen von ihnen gerechtfertigt ist.
Ladet den Krieg nicht so gedankenlos in die Kultur, in die Universitäten ein. Jeder, der so wie ich in einer von Krieg geplagten Region aufgewachsen ist, weiß: Der Krieg ist wie ein Geschwür, er metastasiert überall hinein, von den Zeichnungen der Kleinkinder in den Kitas bis hin zur populären Kultur. Wo der Krieg sich einmal eingenistet hat, kann es Jahre, Jahrzehnte dauern, ihn wieder von dort zu vertreiben. Verbarrikadiert also die Konzertsäle, die Schulen, die Vorlesungsräume gegen ihn.

Der Tag nach dem Krieg wird kommen

Jubelt nicht, dass junge Männer mit neuer Ausrüstung das Töten und Getötetwerden lernen, dass ihre Mütter und Väter eine neue Art von schlaflosen Nächten kennenlernen müssen. Vergesst nicht, es wird der Tag nach dem Krieg kommen, an dem man mit russischen Partnerinnen und Partnern das Gespräch wird finden müssen. Wie soll das gelingen, wenn alles Russische aus Deutschland, aus Europa verbannt wird? Es hieß doch schon mal „Wandel durch Annäherung“, nicht durch Anfeindung, oder?
Auf dem Schlachtfeld werden zwar Russen bekämpft, von einer korrupten Führung geleitet. Der eigentliche Feind ist aber der Krieg. Bitte jubelt nicht, denn es ist nicht die Zeit des Jubelns. Lasst uns aus der Vergangenheit lernen: Das Ziel heißt nicht Sieg, sondern die Wiederherstellung des Friedens.

Ofer Waldman, in Jerusalem geboren, ist freier Autor und Journalist. Er war Mitglied des arabisch-israelischen West-Eastern-Divan Orchesters. In Deutschland spielte der diplomierte Orchestermusiker u.a. beim Rundfunk-Sinfonie-Orchester Berlin sowie den Nürnberger Philharmonikern. Er wurde an der Hebräischen Universität Jerusalem und der FU Berlin in Germanistik und Geschichtswissenschaft promoviert. Waldman beschäftigt sich in Vorträgen und Texten mit den deutsch-jüdischen, deutsch-israelischen und israelisch-arabischen Beziehungen.

Porträt des Autors und Journalisten Ofer Waldman
© Tal Alon
Mehr zum Thema