Ukraine in Kriegszeiten

Im Kinosessel zurücklehnen für eine Stunde normales Leben

05:39 Minuten
Auf einem Foto vom 4. Februar 2022 ist ein Passant zu sehen, der an einem großen Werbeplakat für ein Multiplex-Kino vorbeiläuft. Auf dem Plakat ist ein Mann mit Popcorn zu sehen.
Reklame für ein Multiplexkino in Kiew zwei Wochen vor Kriegsbeginn. Aktuell sind noch neun Kinos der Kette in Betrieb. © imago / ZUMA Wire / Bryan Smith
Von Christian Berndt · 30.04.2022
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Als der Krieg gegen die Ukraine begann, wurden schnell auch die Kinos geschlossen. Inzwischen sind einige wieder geöffnet. Neben Klassikern gibt es auch politisches Filmprogramm. Am beliebtesten aber ist Unterhaltung zur Entspannung vom Kriegsalltag.
Als der Krieg in der Ukraine zwei Wochen alt war, begann Maria Hlazunova, ihrer Familie zu Hause Filme vorzuführen. Als erstes Charlie Chaplins „Der große Diktator“ – sie haben viel gelacht. Das Lachen habe gegen die Angst geholfen, sagt Maria Hlazunova. Sie arbeitet am Dovzhenko Center in Kiew, dem nationalen Filmarchiv und Kulturzentrum der Ukraine.
Ihre privaten Vorführungen brachten sie auf eine Idee: das U-Bahn-Kino. Hlazunova sah die Fotos von Müttern und Kindern, die während des Bombenalarms in den U-Bahnstationen Schutz suchten, und sie überlegte, wie sie helfen und den Menschen das Leben ein wenig erleichtern könne.

Kino in der U-Bahn

Das Dovzhenko Center verfügt über eine riesige Sammlung ukrainischer Filme, darunter auch Animationsfilme. Hlazunova stellte ein Kinderfilmprogramm zusammen und trat mit ihrer Idee für ein U-Bahn-Kino an die Stadt heran.
Die Idee kam an: In fünf U-Bahn-Stationen wurden Leinwände aufgebaut. Neben dem Kinder- gab es auch ein Erwachsenenprogramm, unter anderem mit Stummfilmen. Denn nachts, so Hlazunova, wollten in den U-Bahnstationen auch Leute schlafen.
Gezeigt hat sie zum Beispiel den Stummfilmklassiker „Der Nachtkutscher“ von 1928, ein frühes Meisterwerk des ukrainischen Kinos über den Bürgerkrieg im Odessa der 20er-Jahre. Im Moment läuft das U-Bahn-Kino allerdings nicht, weil die Metro wieder regelmäßig fährt.

Bedürfnis nach Kultur nach erstem Kriegsschock

Anders als in Kiew gibt es in Lwiw zwar keine U-Bahn, aber Mitarbeiter des Dovzehnko Centers haben auch dort ein Kino initiiert. Denn in den ersten Wochen nach Kriegsbeginn waren alle Kultur- und Freizeiteinrichtungen der Stadt geschlossen, erzählt der Leiter des Dovzehnko-Filmarchivs, Oleksandr Teliuk.
Nach dem ersten Kriegsschock habe es in der Stadt wieder ein Bedürfnis nach Austausch und Kultur gegeben. Eine städtische Galerie stellte den Raum für Filmvorführungen zur Verfügung – und tatsächlich sind die kostenlosen Vorstellungen mit anschließenden Diskussionen immer sehr gut besucht.
Gezeigt werden viele ukrainische Filmklassiker aus dem Nationalarchiv. In der Ukraine, sagt Teliuk, gebe es keine ausgeprägte Arthausfilm-Kultur. Die Filmvorführungen in der Galerie seien die einzige Möglichkeit in Lwiw, Filmklassiker auf der Leinwand zu sehen.
Normalerweise schauten die Ukrainer eher Hollywoodkino, aber das rege Interesse an den Filmvorführungen in der Galerie, findet Teliuk, könnte auf ein wachsendes Interesse an ukrainischen Filmen hindeuten.

Ukrainische Identität und Geschichte

Ein Grund für das Interesse an diesen Filmen könnte sein, dass die Filmklassiker etwas über ukrainische Geschichte und Identität erzählen. Das sei jetzt im Krieg wichtig für die Menschen. Zuletzt lief eine Dokumentarfilmreihe zum Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe.
Ein historisch-politisches Programm zeigt auch die größte Kinokette der Ukraine, „Multiplex“. Die Kinos, sagt „Multiplex“-Geschäftsführer Roman Romanchuk, zeigten jetzt Dokumentarfilme, auch über die ukrainische Geschichte; dazu gibt es Diskussionsveranstaltungen.
Momentan sind neun „Multiplex“-Kinos in der Ukraine geöffnet. In Charkiw und Mariupol sind die Filmtheater zerstört. Die Besucherzahlen liegen landesweit bei etwa zehn Prozent der üblichen Auslastung.

Wiederholungen von Hollywoodfilmen beliebt

Aber auch aus einem anderen Grund laufen viele ukrainische Filme: Die großen Hollywoodstudios liefern im Moment keine neuen Filme in die Ukraine. Studios wie Warner oder Disney fürchten einen Imageschaden, meint Romanchuk, wenn es während der Vorstellungen ihrer Filme Bombenangriffe gibt und die Kinozuschauer in Gefahr geraten.
Zwar zeigen die „Multiplex“-Kinos Kurz-Dokus, die gerade mitten im Kriegsgeschehen gedreht werden, ebenso wie Filme von Regisseuren wie Sergei Loznitsa – zum Beispiel „Donbass“ von 2018 über den Krieg in der Ostukraine. Beliebter sind aber leichte Unterhaltungsfilme, die Kinocharts führen Wiederholungen von Hollywoodfilmen an.
Die Kinobesucher sagen, sie wollten im Kino eine Stunde lang so etwas wie ein normales Leben haben. Das zu vermitteln, war in Krisen- wie in Kriegszeiten schon immer die größte Stärke des Kinos.

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